DIE SPIELZEIT 2023/2024 - Gedanken aus der Dramaturgie

Im antiken Mythos der «Orestie», dem ersten überlieferten Theaterstück überhaupt, eskalieren Konflikte, weil sich die Perspektiven der Beteiligten – die Traditionen, auf die sie sich berufen und ihr ganz persönliches Unrechtsempfinden – nicht vereinbaren lassen. Ja, selbst die Göttinnen und Götter auf dem Olymp sind uneins. Der unauflösliche Widerstreit gipfelt in der Frage, ob es schlimmer ist, den Ehemann oder die Mutter zu ermorden. Da ist dann sogar die Göttin der Weisheit Athene überfragt. Und sie beschließt, nicht allein zu entscheiden, sondern einen Rat einzuberufen, der über das Schicksal des titelgebenden Orest abstimmen soll.

In diesem Streit stehen zwei mächtige Fraktionen einander gegenüber: Apollon, der Gott der Weissagung, der Künste und des Frühlings, vertritt das patriarchale Prinzip und verteidigt Orest, während die Rachegöttinnen, die Erinnyen, die für Fruchtbarkeit und Totenkulte zuständig sind, auf das Recht der Mutter pochen und Orest ins Totenreich abschieben wollen. Tatsächlich kann aber auch die Abstimmung, die erste demokratische Entscheidung der Theaterliteratur, diesen Konflikt nicht klären – die Stimmen teilen sich fifty-fifty.

 

Gleich mehrere Aspekte erinnern uns nur zu gut an unsere Gegenwart: Unversöhnliche Meinungen, unversöhnliche Geschlechter, Gegenspieler*innen, die sich vehement im Recht sehen und das in ihrer jeweils eigenen Logik auch oft ganz gut begründen können – all das setzt einen Transformationsprozess in Gang, der keine klare Mehrheit ergibt und das Problem letztendlich nicht wirklich lösen kann. Stichwort Zeitenwende.

 

Um diese vielen Facetten zu beleuchten – und auch ein paar Zwischenstationen in den knapp 2500 Jahren einzulegen, die verflossen sind, seit die «Orestie» ihre Uraufführung feierte, zeigen wir die drei Teile der Trilogie in unterschiedlichen Handschriften, jeden auf einer unserer drei Bühnen und über die Spielzeit verteilt: Den Anfang zur Spielzeiteröffnung machen «Die Fliegen» von Jean-Paul Sartre in der Inszenierung von Elsa-Sophie Jach im Cuvilliéstheater. Sartre stellt sich in dem 1943 mitten im Krieg im besetzten Paris uraufgeführten Werk ganz klar auf die Seite der jungen Generation, die sich mordend von einem Unrechtsregime befreit und ihre Freiheit sucht. Im Dezember folgt im Residenztheater die Vorgeschichte, die Münchner Premiere von «Agamemnon», das bereits im vergangenen Jahr im antiken Theater von Epidauros in Koproduktion mit dem Athens Epidaurus Festival entstanden ist. Ulrich Rasches Chortheater bringt Aischylos‘ Original zum Klingen und stellt die Rache der Klytaimnestra an einem von Männern geführten Krieg in den Mittelpunkt und hat, mit Blick in die Ukraine, leider nichts von ihren direkten Parallelen mit unserer Gegenwart eingebüßt. Und schließlich widmet sich im Februar Robert Borgmann im Marstall dem dritten Teil in der musiktheatralen Installation «Athena», in der er die Bereitschaft zur Demokratie bis ins Heute thematisiert.

Auch die dreizehn anderen Stücke im Spielplan greifen in unterschiedlicher Hinsicht Themen der «Orestie» auf. Am direktesten vielleicht Friedrich Schiller in «Maria Stuart», der im englischen Könighaus ein Duell zweier ebenso unversöhnlicher Königinnen inszeniert und sie an der Frage, welche von beiden denn nun gottgesandt sei, scheitern lässt. Dass keine Person allein im Stande ist, staatstragende Entscheidungen zu treffen, ist das implizite Fazit dieses kurz nach der Französischen Revolution entstandenen Stücks.

 

Thomas Manns «Buddenbrooks» und Shakespeares «Wintermärchen» greifen den Generationenkonflikt auf, verfolgen, wie Kinder den offensichtlichen Versäumnissen und heimlichen Beziehungstaten auf die Schliche kommen, ihre jeweils eigenen Wege in einer Zeit der Umbrüche suchen und dabei doch weder den Familienbanden noch den Traditionen entkommen können.

 

Ein Phänomen, das uns in all seinen Facetten beschäftigt und in fast allen Stücken auftaucht, ist die radikale Vereinzelung, die in der «Orestie» beispielgebend beiden Fraktionen geschieht und für den Furor sorgt, mit der sie ihre Perspektive als allgemeingültig durchzusetzen suchen und gleichzeitig empfinden, mit ihrer Sichtweise alleine da zu stehen. Ob sich die Figuren in ihrer Vereinzelung gegen ein Meer von Plagen waffnen oder die Pfeile des wütenden Geschicks erdulden, ist dabei jedoch sehr gegensätzlich: Für Kapitän Ahab in Melvilles «Moby Dick» wird sein Kampf gegen den Wal zur Obsession. Er führt lieber seine ganze Crew autoritär in den Tod, als sein Ziel zu überdenken. Der Landvermesser K. in Kafkas «Schloss» hingegen wird von der so bizarren wie verschworenen Arbeitswelt bis zur völligen Erschöpfung verschlungen.

 

Doch auch die Kunst ist ein Mittel, die subjektive Wirklichkeit zwar absolut zu setzen, dabei aber als Möglichkeitsraum zu begreifen, was wir exemplarisch mit drei großen skandinavischen Erzähler*innen durch die Zeiten verfolgen. Der Dichter Hans Christian Andersen übersetzt die Unmöglichkeit, seine wahre Identität in der Wirklichkeit zu leben, in die Unterwasser-Märchenwelt der kleinen Meerjungfrau. In Ibsens «Peer Gynt» schafft es die Titelfigur, in immer wieder neu erfundenen Geschichten schließlich sein Ziel zu erlangen – die Souveränität über seine Lebenswelt, die er nach und nach auf globale Dimensionen ausweitet. Am Ende muss er einsehen, dass die Monomanie nichts wert ist, weil man sie mit niemandem teilen kann. Und für Tove Ditlevsen ist das Schreiben der Weg in die Emanzipation aus der Beschränktheit ihrer Gegenwart und eine Selbstbehauptung, auf die sie gegen alle Widerstände beharrt.

 

Einen ähnlichen, wenn auch deutlich schillernderen Weg der künstlerischen Selbstbehauptung, die ihr Zentrum in unserer direkten Münchner Nachbarschaft hatte, verfolgt Alexander Eisenach am Beispiel des Mode- und Lebenskünstlers Rudolph Moshammer, dem er einen Abend im Cuvilliéstheater widmet und dabei auch dem «Bavarian Dream» auf den Zahn fühlt. Der legendäre Regisseur Claus Peymann hingegen fragt in Thomas Bernhards «Minetti» einen großen Schauspieler am Ende seines Bühnenlebens, ob es überhaupt ein Jenseits der Bretter, die die Welt bedeuten, für ihn geben kann – ein «Porträt des Künstlers als alter Mann».

 

Und auch die Geschichtsschreibung unserer Institution selbst gehört unter diesem Blickwinkel befragt: In dem dokumentarischen Stück «Mitläufer» geht der deutsch-israelische Regisseur Noam Brusilovsky dem Residenztheater und seinen Mitarbeitenden in der Zeit des Nationalsozialismus nach.

Während die Lüge in «Peer Gynt» vor allem als zärtliche Rüge seiner Mutter vorkommt und am Ende vornehmlich er selbst in den Trümmern seiner Luftschlösser leben muss, geht es mehreren weiteren Stücken auch um die Gewalt der schieren Behauptung. In Goethes «Reineke Fuchs» ist es die ganze Waldgesellschaft, die unter den Schikanen des gerissenen Fuchses leben muss und sich doch immer wieder von ihm um den Finger wickeln lässt – nicht zuletzt wegen seiner rhetorischen Geschicklichkeit, was Schorsch Kamerun in einer musikalischen Adaption des Epos‘ für junges und erwachsenen Publikum zum Klingen bringt.

 

Ob die Kunst der Sprache Werkzeug der Emanzipation oder der Unterdrückung – oder womöglich beides auf einmal – ist, wird nicht nur in den Diskussionen ums Gendern zunehmend aggressiv ausgefochten. Drei Stücke beleuchten den Kampf ums Wort zwischen den Geschlechtern. Der iranische Regisseur Amir Reza Kohestaani untersucht in seiner Bearbeitung von Shaws «Pygmalion», dem Weg der Blumenverkäuferin Eliza Doolittle in die Upper Class und die Rolle, die zwei ältere Herren darin spielen. Um eine ganz konkrete Sprache, nämlich der der Gesetze, geht es in «Prima Facie», dem neuen Stück der Australierin Suzy Miller, das im angelsächsischen Sprachraum bereits mit fast allen wesentlichen Preisen für neue Dramatik ausgezeichnet worden ist. Darin schildert eine junge Anwältin, wie ihr Blick auf das Rechtssystem sich wandelt, nachdem sie selbst als Opfer in die Mühlen der Justiz gerät. Fast gänzlich sprachlos ist unterdessen die Titelfigur in Gombrowicz’ «Yvonne, Prinzessin von Burgund», an der Gombrowicz die Manierismen, die Engstirnigkeit und Gewalt eines abstrakten Könighofs vorführt, den der polnische Regisseur Ahmad Ali aus dem Blickwinkel der Gegenwart neu in Szene setzt.

 

In seiner «Orestie» lässt Aischylos Athene zum Schluss intuitiv entscheiden, sie fühlt sich dem Mann näher und spricht Orest frei – die Rachegöttinnen sollen von nun an nicht mehr Rachegöttin heißen, sondern die «Wohlgesinnten» genannt werden und ihren eigenen Tempel in Athen bekommen. Der eigentliche Triumph des Stückes ist der klare Sieg des Worts über die blinde Rache – und die Erkenntnis, dass die Demokratie stets gefährdet ist und deshalb eine konstante Befragung fordert. Das haben wir vor und dazu möchten wir Sie herzlich einladen.

 

Katrin Michaels