«Feste feiern wie sie fallen? Überlegungen zum Frauentag»

In meiner westdeutschen Kindheit und Jugend gab es keinen Frauentag, es gab nur einen Muttertag. Den lehnte meine Mutter ab, weil sie nicht nur an einem Tag im Jahr wertgeschätzt werden wollte, sondern an allen. Erst als ich mit Anfang 20 einen russischen Freund hatte, gratulierte er mir am 8. März. Was für ihn selbstverständlich war, musste ich recherchieren.
 

Die Idee des Weltfrauentags entstand in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA, wo die Suffragettenbewegung beschloss, mit einem besonderen nationalen Kampftag auf die Notwendigkeit des Frauenwahlrechts aufmerksam zu machen. Ab 1910 brachte die deutsche Sozialistin Clara Zetkin die Forderung eines solchen Tags in der Sozialistischen Internationale ein, der in den folgenden Jahren dann auch in mehreren europäischen Staaten an wechselnden Daten begangen wurde. Diese Tage wurden einerseits als Erfolg für die aufstrebenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen verbucht, an denen sich auch immer mehr Frauen beteiligten, waren andererseits aber auch innerhalb der Bewegung umstritten und wurden jedes Jahr aufs Neue debattiert.
 

Ein Protest von Arbeiterinnen, Soldatenfrauen und Bäuerinnen in Sankt Petersburg im Jahr 1917 wird als wesentlicher Initialmoment der Februarrevolution angesehen: Er führte zur Entmachtung des Zaren – und dazu, dass der 8. März im kommunistischen Teil der Welt bald als Frauentag, zumindest der Internationale, eingeführt wurde (dass dieser Umsturz nicht Märzrevolution heißt, liegt am damals in Russland verwendeten julianischen Kalender).
 

Leicht lässt sich eine Linie von diesem Umbruch und der Teilung der Welt in feindliche Blöcke, die er markierte, zu den Konflikten ziehen, die jetzt gerade und auch während der vergangenen 105 Jahre immer wieder blutig umkämpft wurden und werden. Damals schien sich der Frauentag in Deutschland jedenfalls mit der Einführung seines Hauptanliegens, dem Frauenwahlrecht, 1918 erstmal erledigt zu haben. Im folgenden Jahrzehnt zerstritten sich die kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien über viele Fragen und auch über den Frauentag waren sie uneinig. So wurden zeitweise sogar mehrere Frauentage pro Jahr begangen – bis er von den Nazis ganz verboten wurde. Erst 1975 wurde er von Vereinten Nationen weltweit institutionalisiert.
 

Und heute? Habe ich Grund zu feiern und gefeiert zu werden, weil ich mich als Frau definiere? Zum Beispiel am 8. März? Natürlich sind – um nur einige Beispiele zu nennen – Gender-Pay-Gap, der Frauenanteil in Führungspositionen und Carearbeit, die Legalisierung von Abtreibungen und die Frage, wer sich überhaupt Frau nennen darf, nach wie vor heiß umstrittene Themen und von gleichen Chancen für alle Geschlechtsidentitäten kann keine Rede sein. Bei der Recherche lese ich, dass noch immer rund ein Viertel der in den Vereinten Nationen vertretenen Länder die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht einmal gesetzlich verankert haben. All das ist sicherlich Grund für eine Rückbesinnung auf die ursprüngliche Idee des Frauentags als Kampftag.
 

Andererseits lebe ich in einem Land, das die vergangenen 16 Jahre von einer Frau regiert wurde (ich habe sogar gehört, dass sich manche Kinder bis vergangenen Sommer fragten, ob man auch als Mann Bundeskanzlerin werden könne). In meiner Familie und der Schule hatte ich persönlich nie den Eindruck, schlechtere Chancen zu haben. Tatsächlich verbringe ich seit meinem geisteswissenschaftlichen Studium die meiste Zeit meines Lebens in Umfeldern, die mehrheitlich von Frauen geprägt werden. Natürlich davon abgesehen, dass alle Theater, an denen ich gearbeitet habe, von Männern geleitet wurden und auch die meisten berühmten Yogalehrer Männer sind. Aber vergleiche ich mein Leben mit dem meiner Mutter und Großmutter, habe ich mit vielen ihrer Probleme nicht mehr zu kämpfen. Kurz: Ich hatte viel mehr Glück und Privilegien als viele andere – und das scheint mir nur so halb ein Anlass zu feiern.
 

Dennoch haben auch mich die Debatten der letzten Jahre auf blind spots in meiner Wahrnehmung aufmerksam gemacht und das Thema der Gleichberechtigung im Arbeitsalltag unserer Dramaturgie verankert. Wir zählen seit ein paar Jahren die Verhältnisse von Autor*innen, Regisseur*innen, Schauspieler*innen und denken über Strategien nach, die althergebrachten Strukturen zu öffnen. Auch wenn nicht allein die Quote der letztendliche Ausschlag für die Verteilung künstlerischer Positionen ist, mache ich zum Beispiel keine Programmhefte mehr, in denen nur Texte von Männern vorkommen, auch wenn viel mehr Bücher von Männern veröffentlicht werden. Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass in dieser Spielzeit bei unserem internationalem Residenz-Programm Welt/Bühne drei Frauen zu Gast sind.
 

Während ich darüber nachdenke, was der Frauentag für mich bedeutet, frage ich die frisch in München eingetroffene Asiimwe Deborah Kawe. «Ja, wir feiern den 8. März in Uganda», schreibt sie mir sofort zurück, «es ist sogar ein gesetzlicher Feiertag, in Uganda aber erst seit den späten 1990er Jahren. Für mich persönlich ist es ein Tag, an dem ich darüber nachdenke, wie es ist, eine Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft zu sein, in einer Branche zu arbeiten, in der die Beiträge von männlichen Kollegen immer als wichtiger angesehen werden, als die von mir und meinen Kolleginnen, und mich frage, ob ich es schaffe, in meiner Kunst und meinem Schreiben einen Raum zu schaffen, in dem Frauen Erfolg haben können. Und auch, wie ich sicherstellen kann, dass mein Sohn in einer Umgebung aufwächst, in der Gleichberechtigung für alle gilt.»
 


Asiimwe spricht es aus: die patriarchale Struktur, die unsere Welt und unser Kunstschaffen bestimmt. Sie und die anderen beiden Autorinnen sind da, weil sie tolle Künstlerinnen sind, aber auch weil unser Repertoire um ihre Stimmen erweitert gehört. Nicht wenige Texte, die bei uns auf den Bühnen gesprochen werden, stammen aus einer Zeit, in der an einen Frauentag noch nicht einmal gedacht wurde. Wir blicken in unserem literarischen Kanon auf eine jahrhundertealte Tradition zurück, die die meiste Zeit ausschließlich von Männern bestimmt wurde. Und obwohl ich glaube, dass auch Männer – und auch Männer, die vor den neuzeitlichen Emanzipationsbewegungen gelebt haben – Frauenrollen schreiben können, die einer feministischen Betrachtung standhalten, schleppen wir Schemata der Betrachtung mit uns herum, die wir hinterfragen müssen.
 

Genau das passiert zum Beispiel in «Die Unerhörten». Die Regisseurin Elsa-Sophie Jach, ihr Team und Ensemble unterziehen antike Mythen einer Revision, führen die fragmentarischen Texte von Sappho, der ersten Dichterin der Neuzeit, ins Feld und ergänzen sie mit weiblichen Stimmen aus Moderne und Gegenwart. Sie machen deutlich, wie sehr sich die männliche Perspektive in die Überlieferung unserer großen Klassiker eingeschrieben hat und das weit über die Antike, in der Frauen noch nicht einmal Bürger*innenrechte besaßen, hinaus. Bei den «Unerhörten» ist der Kampftag sehr deutlich eine Feier und zwar eine lustvolle.
 

Doch es gibt auch leisere Formen, die tradierten Rollenbilder umzuschreiben – in «Leonce und Lena», zum Beispiel, spricht Lisa Stiegler mehr Texte von Leonce als von Lena und Barbara Melzl die des Königs – ohne dass es, zumindest was die Kritiker*innen betrifft, jemand bemerkt hätte und die Figuren automatisch den Spieler*innen zugeordnet werden, deren Geschlecht entsprechend gelesen wird. Auch in «Die Wolken, die Vögel, der Reichtum» ist es nicht groß aufgefallen, dass hier jede und jeder Mal der berühmte Sokrates ist.
 

Das alles ist natürlich nur ein Anfang. Oft genug haben wir es mit Stücken zu tun, die in Sachen Rollenverteilung und Konfliktinteressen Männer in den Vordergrund stellen. Kaum ein Stück aus dem literarischen Kanon besteht den Bechdel-Test, der doch nur fragt, ob hier zwei Frauen über etwas anderes als einen Mann sprechen. Auch deshalb geben wir oft zeitgenössische Bearbeitungen dieser Stoffe in Auftrag, die zwar den Grundkonflikt übernehmen, aber für unsere Gegenwart anpassen. Aber warum spielen wir diese Stücke eigentlich überhaupt noch?
 

Ganz einfach: weil sie gut sind, sagte ein Freund vor kurzem, als wir diese Frage diskutierten. Und das stimmt. Außerdem denke ich, dass es oft leichter ist, sich selbst im Fremden, etwa der Sprache einer anderen Zeit, einer anderen Gesellschaftsordnung zu erkennen, Dinge in Bilder, in Symbole verpackt zu sehen, als sie direkt zu sagen. In der Gestalt einer Königin oder eines Königs können wir etwas über Macht erzählen, auch wenn wir schon lange in einem anderen politischen System leben, zum Beispiel.
 

Aber wir spielen diese Stücke auch, weil sie beliebt sind. Es kommen einfach mehr Menschen zu Stücken von Shakespeare oder auch von Ferdinand von Schirach, als zu einer Aufführung einer Autorin, von der man noch nie gehört hat. Ich verstehe das. Ich bin auch jemand, der im Restaurant immer wieder das gleiche bestellt, weil ich ungefähr weiß, was ich zu erwarten habe, weil ich weiß, dass es mir wahrscheinlich schmecken wird. Aber damit bleibt auch alles beim Alten.
 

Und deshalb rufe ich Sie hier auf, etwas Neues auszuprobieren. Gehen Sie in «Die Träume der Abwesenden», dem einzigen Stück auf der Resi-Bühne, das eine Frau, nämlich die niederländische Dichterin Judith Herzberg, geschrieben hat. Sehen Sie, wie eine Familie über Generationen von starken Frauen weitergetragen wird. Gehen Sie in «Ronja Räubertochter» von Astrid Lindgren, gehen Sie in «Erinnerung eines Mädchens» von Annie Ernaux, gehen Sie in «Bitches» von Bola Agbaje, das im April Premiere hat.

Ich könnte jetzt noch seitenweise andere Produktionen aufführen, die sich mit Fragen der Gleichberechtigung auf die eine oder andere Weise auseinandersetzen. Aber eigentlich wollte ich ja herausfinden, was der Frauentag für mich bedeutet. Deshalb nur noch ein Beispiel: Im «Dekalog» von Krzysztof Kiéslowski und Krzysztof Pisiewicz ist das Verhältnis von Frauen und Männern vollkommen ausgeglichen: Sie kommen gleich viel vor, haben gleichverteilt autoritätstragende gesellschaftliche Positionen, gleichermaßen betrügen sie und werden betrogen und sie werden gleichermaßen in sexuell bedrängende Positionen gebracht. Allein der Mord bleibt einem Mann vorbehalten, was ich schon von der statistischen Wahrscheinlichkeit her auch nachvollziehbar finde.
 

Nun entstanden diese Texte in den 80er-Jahren in Polen und mit der kommunistischen Diktatur, die dort für viele Repressalien und Unfreiheit gesorgt hat, setzen sich die beiden explizit in ihrem Kunstschaffen auseinander. Es hat ihnen aber auch mehrere Jahrzehnte einen Frauentag verordnet – 25 Jahre Vorsprung vor den Vereinten Nationen. Weil ich nicht ausschließen kann, dass ihre Texte deshalb so sind, wie sie sind, bin ich für einen Frauentag für die nächsten 25 Jahre. Ich halte es aber auch mit meiner eingangs erwähnten Mutter, die nicht nur an einem Tag im Jahr bedacht werden will, sondern an allen. Deshalb bin ich für den ganzjährigen Frauentag für die nächsten 25 Jahre. Oder besser noch für die Gleichstellung aller Menschen – das heißt Zugang zu denselben Privilegien – ganz gleich welche Herkunft und Hautfarbe sie haben oder wie sie ihr Geschlecht definieren. Lassen Sie uns für die nächsten 25 Jahre jeden Tag daran arbeiten. Dann sehen wir weiter.

 

Katrin Michaels