EIN AUSBLICK AUF DIE SPIELZEIT 2022/2023

von Katrin Michaels, Dramaturgin am Residenztheater

«Die Freiheit einer Person ist unverletzlich» – kaum ein Grundrecht ist in den vergangenen Jahren so viel zitiert worden und so schwierig zu interpretieren.
Der Konflikt zwischen der persönlichen Freiheit und dem Recht auf Freiheit und Unversehrtheit anderer taucht in so gut wie allen lokalen und globalen Debatten und Konflikten auf – in persönlichen Beziehungen, zwischen Generationen, Staaten und Erdteilen, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinne fragen wir in der kommenden Spielzeit in unterschiedlichsten persönlichen wie gesellschaftlichen Konstellationen, historischen Kontexten und Handschriften, nach Bedingungen und Möglichkeiten der Freiheit.

 

In der ersten Neuproduktion auf der Resi-Bühne «Der Turm» steht eine Figur im Mittelpunkt, die zum lebenslangen Lockdown verurteilt ist – und zwar vom eigenen Vater. Dem ist nämlich prophezeit worden, dass ihn dieser Sohn, Prinz Sigismund, gewaltsam entthronen wird, und so sperrt er ihn ein, verheimlicht seine Existenz. Hugo von Hofmannsthal erzählt in seinem Stück einerseits, was aus einem Menschen wird, der zur Isolation verdammt ist (Kaspar Hauser lässt grüßen), andererseits von der Erschütterung eines politischen Systems durch Umsturzbewegungen gegen das Königshaus an sich. Er stellt so die Freiheit des Einzelnen der Gleichheit aller direkt gegenüber – und zeigt eine Welt, in der von Brüderlichkeit trotzdem noch keine Rede sein kann.

 

Im Marstall untersuchen gleich zwei dokumentarische Projekte Ausdrucksformen gesellschaftlicher Befreiung: Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger nehmen das Olympia-Jubiläum zum Anlass, um u.a. die Mittel zu befragen, mit denen 1972 in München ein Gegenbild zum Deutschland der NS-Diktatur entworfen wurde.
Die thailändisch-deutsche Koproduktion «I don’t care ไม่ว่าอย่างไร» wiederum erzählt aus dem Leben von trans* Menschen in beiden Ländern, von Erfahrungen der Veränderung genauso wie von Diskriminierung.

 

Im Cuvilliéstheater zeigt Thom Luz auf den Spuren Anton Tschechows hingegen eine Gesellschaft, die bis auf die fehlenden Kopeken wenig Einschränkungen kennt, und dennoch gefangen ist – und zwar in Gewohnheiten und Erschöpfung. Obgleich sich die Figuren nach einem neuen Leben sehnen, vermag kaum jemand, damit auch tatsächlich anzufangen. Man beschäftigt sich lieber mit der eigenen Endlichkeit, was angesichts der globalen Erderwärmung auch eine durchaus angemessene Handlungsoption darstellt.

 

«Die Affäre Rue de Lourcine» von Eugène Labiche im Resi setzt sich mit ähnlichen Mustern bürgerlicher Selbstzufriedenheit auseinander, die allerdings jäh zusammenbrechen, als sich nach einer vermeintlich harmlosen Sauftour plötzlich Indizien eines mörderischen Verbrechens in der eigenen Wohnung häufen. Regisseur Andras Dömötör verlegt den Klassiker der Salonkomödie, der bei allem Spaß auch fragt, was passiert, wenn Albträume wahr werden und wozu Menschen fähig sind, wenn sie sich in ihrer Existenz bedroht fühlen, ins Hier und Heute.

 

Im Bereich jenseits des Rationalen wandelt auch Kleists «Käthchen von Heilbronn», die so felsenfest an die ihr im Traum erschienene große Liebe glaubt, dass sie dafür auch in brennende Häuser rennt und so auch gleich die Hürden ihres Standes beiseiteschiebt. Elsa-Sophie Jach («Die Unerhörten») nimmt sich mit Käthchen im Cuvelliéstheater eine weitere klassische Frauenfigur vor, die sie von ihrem traditionellem Interpretationsmuster befreit.

 

Im Auftragswerk «Der Entrepreneur» von Kevin Rittberger kommt ein ehemaliger Patriarch selbst zu Wort, der ein für alle Mal mit den Strukturen des traditionellen Familienunternehmens Schluss macht. Das Stück im Marstall erzählt sehr unterhaltsam von einem Menschen, der von einem Tag auf den anderen sein Leben ändert, um angesichts überkommener Hierarchien und der Klimakrise endlich etwas wirklich Sinnvolles zu tun.

 

Mit Regeln, Gesetzen und Bürokratie stand der Münchner Komiker und Autor Karl Valentin sein Leben lang auf Kriegsfuß. Regisseurin Claudia Bauer und Autor Michel Decar widmen dem Sprachanarchisten eine Hommage, die gegen alle Vernunft die Neuerfindung der Welt im Wortwitz sucht und zugleich beleuchtet, wie Valentins Erfahrungen in zwei Weltkriegen seine Kunst geprägt haben.

 

Die persönlichen Wunden, Verletzungen und Freuden historisch zu erinnern und zu katalogisieren ist das utopische Unterfangen im «Archiv der Tränen», dem Auftragswerk von Magdalena Schrefel. Sie entwirft in ihrem Stück für den Marstall genau das, was der Titel verspricht, lässt ihre Mitarbeiter*innen Fundstücke aus mehreren Jahrhunderten vorstellen und entwirft so mit Poesie und Eigensinn eine emotionale Geschichte des Vergessenen.

 

Die Menschlichkeit ist es auch, für die Antigone stur plädiert, während Kreon genauso stur auf Vernunft und Staatsraison pocht. Ob nun Individuum oder gesellschaftliche Verantwortung wichtiger sind und welche Gesetze die wirklich verbindlichen sein sollten, untersucht Mateja Koležnik in ihrer Inszenierung des antiken Klassikers im Residenztheater und zeigt den Hergang der Ereignisse nacheinander aus der Perspektive der Kontrahent*innen.

 

Dass sich gute Absichten und Motive leicht in ihr Gegenteil verkehren können, ist auch die These des chilenischen Autors und Regisseurs Guillermo Calderón. Er erzählt in seinem neuen Stück im Marstall von den Verflechtungen, Vorurteilen und Abgründen der deutsch-chilenischen Beziehungen, die von mehreren Generationen von Auswander*innen maßgeblich geprägt und deren freiheitliche Errungenschaften oft auf Kosten des indigenen Teils der Bevölkerung durchgesetzt wurden.

 

«Die Kopenhagen-Trilogie» ist zugleich Erzählung und Zeugnis einer Befreiung durch Kunst, in der die Dänin Tove Ditlevsen autofiktional ihren harterkämpften Weg als emanzipierte Frau und Autorin beschreibt. Zumindest auf dem Papier kann sie das Arbeitermilieu, in dem sie aufwächst, und die beengende Familienstruktur, die ihr in vielen Liebesbeziehungen wieder begegnet, hinter sich lassen.

 

Zwei Produktionen im Marstall setzen die Auseinandersetzung der Emanzipation aus starren Rollenmustern fort: In «Spitzenreiterinnen» entwirft Jovana Reisinger ein Panorama der Münchner Gegenwart. Bissig und liebevoll zeichnet sie neun Frauen-figuren in unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen, die ihre stereotypen Lebensmodelle hinterfragen. Das Stück «blues in schwarz weiss» widmet sich dem Werk und Leben der afrodeutschen Lyrikerin und Aktivistin May Ayim. Texte der Autorin Julienne De Muirier ergänzen Ayims Gedichte aus heutiger Perspektive und machen deutlich, dass ihr Protest nach wie vor Gehör und Taten verlangt, aber auch in der nachfolgenden Generation empowernd wirkt.

 

Auch «Götz von Berlichingen» setzt sich unerschrocken gegen gesellschaftliche Strukturen zur Wehr, allerdings mit der eisernen Faust und im Sinne des mittelalterlichen Fehderechts. Alexander Eisenach bearbeitet und inszeniert Goethes Erstling im Cuvilliéstheater und betrachtet den Wutbürger Götz als Helden einer Geschichte, die von der Wirklichkeit längst überholt worden ist.

 

Im München der 20er-Jahre ist das politische Ränkespiel noch nicht entschieden, aber nicht weniger gnadenlos: Lion Feuchtwanger beschreibt in «Erfolg», der letzten Resi-Premiere der Saison, die Odyssee eines Paares, das versucht sich gegen das politisch-motivierte Unrecht, das ihnen widerfährt, zur Wehr zu setzen. Stefan Bachmann adaptiert und inszeniert den Roman als Panorama einer Gesellschaft, in der Eigennutz, Hass und Nationalismus zum beherrschenden Antrieb werden und der totalitären Machtübernahme in die Hände spielen.

 

Freiheit – worin auch immer sie besteht – zeigt sich in allen Stücken unseres Programmes als etwas, das nicht von Einzelnen allein verwirklicht werden kann. Die US-amerikanische Autorin Maggie Nelson schlägt in ihrem jüngsten Buch vor, Freiheit nicht als Zustand zu betrachten, sondern als Praxis, die gelebt werden muss. Wir freuen uns darauf, ab Herbst diesem Gedanken gemeinsam mit unserem Publikum nachzugehen.


Das Spielzeitheft der kommenden Saison 2022/2023 können Sie sich direkt HIER kostenlos downloaden.