WIR SIND EIN CHOR

Guillermo Calderóns Theaterarbeit ist eine ganz besondere: subtil und dezent fällt mir als erstes ein, und auch heiter – und das obwohl er sich fast immer ganz besonders umstrittenen und politisch brisanten Themen widmet. Er ist kein Künstler des großen Effekts und der plakativen Bildsprache, sondern erzählt im beiläufigen Plauderton von den Dissonanzen im Weltgetriebe. Als Zuschauer*in ist man eingeladen, der intimen Bühnenwelt am Rande beizuwohnen und dass das Spiel sich nur in vereinzelten Momenten explizit und direkt an das Publikum wendet, ist Teil einer ästhetischen Strategie, die mehr darauf abzielt, die Untertöne einer Debatte zum Klingen zu bringen, als ihre Thesen auf dem Silbertablett zu servieren.

 

Dass sich sein neues Stück um Auswanderbewegungen zwischen Deutschland und Südamerika dreht, hat mehrere Ansatzpunkte: die kolonialen Denkmuster, die seit dem frühen 19. Jahrhundert diesen Austausch im Allgemeinen prägen, konkrete Siedlungsprojekte wie die zu trauriger Berühmtheit gekommene Colonia Dignidad in Chile in den Sechzigerjahren genauso wie aktuelle Auswanderungsbewegungen von Impfgegner*innen. Die Gruppe Frauen, die wir im Stück kennenlernen, ist sich dieser Themen bewusst und will vieles anders machen – und tappt doch immer wieder in dieselben Fallen und verstrickt sich in Widersprüche.

 

Für Guillermo Calderón liegt das nicht zuletzt in ihrem Vorhaben, einen besseren Ort zum Leben zu finden:

«Die Idee, irgendwohin abhauen zu wollen, an einen glücklicheren Ort, der von diesen Problemen nicht betroffen ist, kenne ich auch. Aber ich glaube auch, dass die Welt in den vergangenen Jahren kleiner geworden ist. Probleme wie die globale Erwärmung, die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine haben das Weltgefühl in vielen Ländern angeglichen. Ein Grundzug dieser Probleme ist, dass man ihnen nicht entkommen kann. Auch in Paraguay wird jetzt geimpft und die Klimaerwärmung gibt es dort genauso. Letztes Jahr gab es in Paraguay eine große Flut und auch Brände. Korruption und Gewalt gibt es dort genauso wie überall. Die Vorstellung, dass es einen Ort gibt, an dem all das nicht existiert, ist ziemlich jämmerlich. Denn das ist unmöglich. Der einzige Weg, so zu leben, ist sich komplett zu isolieren und das kann man hier genauso gut wie dort. Ich denke, auch darin liegt der Humor in diesem Stück.»

Der Fokus auf das deutsch-chilenische Verhältnis ist allerdings nicht nur ein Anknüpfungspunkt an seinen Arbeitsort in Bayern und das hiesige Ensemble, sondern ist auch aus chilenischer Perspektive aktuell: Denn auch der Rechtspopulist José Antonio Kast, bei der chilenischen Präsidentschaftswahl 2021 mit 44 Prozent knapp unterlag, ist Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, der mit seiner Familie in den Fünfzigerjahren von Bayern nach Chile auswanderte. Er hat neun Kinder, ist Mitglied der apostolischen Schönstattbewegung und vertritt ein politisches Programm, dass der Agenda von Donald Trump und Jair Bolsonaro ähnelt.

 

Doch all das ist in «Bavaria» eher Hintergrundrauschen denn Verhandlungsgegenstand. Auch wenn der Aggregatzustand der Figuren unseren gegenwärtigen Konflikten abgelauscht ist, gelingt auf der Bühne genau das, was im echten Leben scheitert: der Rückzug aus der Realität – und zwar in ein Refugium der Kunst. Gemeinsam mit dem musikalischen Leiter Stephen Delaney hat Guillermo Calderón ein Repertoire aus deutschen und chilenischen Volksliedern zusammengestellt, dass für den Chor das beste Mittel zur Entscheidungsfindung zu sein scheint: In den Harmonien der Musik und der Schwingungen der Töne wird sich der richtige Weg schon zeigen. Denn worüber man nicht sprechen kann – oder des Streitens müde ist, darüber kann man singen und ist übrigens auch als Publikum eingeladen einzustimmen.

 

 

Katrin Michaels