«Die Tiefe kommt gratis»

Über die niederländische Autorin Judith Herzberg und ihre Stücktrilogie «Die Träume der Abwesenden»

 

Judith Herzberg reiste Ende September 2021 mit dem Nachtzug aus Amsterdam nach München, denn sie fliegt nicht mehr gerne, um der Generalprobe und der Premiere von «Die Träume der Abwesenden» beizuwohnen. Unter diesem Titel hat der Regisseur Stephan Kimmig drei ihrer Stücke zu einem großen Familienepos zusammengefasst: «Leas Hochzeit», «Heftgarn» und «Simon». Geschrieben hat sie diese über zwei Jahrzehnte hinweg. Sie begleitet darin ihre Figuren, eine jüdische Großfamilie und deren Freundeskreis, in einem Zeitraum von Anfang der 1970er- bis Ende der 1990er-Jahre. Es geht um die Traumata der Shoah, die von Generation zu Generation weitergegeben werden – ein ernstes Thema, das in unzähligen kurzen Szenen äußerst kurzweilig verhandelt wird. Das erste Stück «Leas Hochzeit» war eine Auftragsarbeit der Stadt Amsterdam, das zweite und dritte entstand unter anderem auf Wunsch der beteiligten Schauspieler*innen, weil sie neugierig waren, wie es mit ihren Figuren wohl weitergehen würde.

 

Zum Theater kam Judith Herzberg, geboren 1934, auf Umwegen. Ihre Eltern waren Emigranten aus Berlin. Ihr Vater war der Rechtsanwalt und Schriftsteller Abel J. Herzberg, ihre Mutter Thea Loeb-Herzberg. Ihre Eltern überlebten das KZ. Die Familie musste während der Okkupation der Niederlande durch die Nationalsozialisten untertauchen und überlebte. Bekannt wurde sie zunächst als Lyrikerin, und erst auf Anregung von Theaterleuten, die ihre Gedichte bewunderten, wandte sie sich der Dramatik zu. In ihren Gedichten wie in ihren Stücken versucht sie das Unausgesprochene, das den Raum zwischen den Zeilen bewohnt, hör- und fühlbar zu machen. Es sind die Ungewissheiten, die Brüche in den Lebenslinien und Identitäten, die sie faszinieren. Es ist dieser Spagat: Der Mensch kann sich trotz seiner Vergangenheit, die ihn prägt, neu erfinden. 

 

Formal gleichen ihre Stücke Partituren für Schauspieler*innen. Die Repliken und Szenenabfolgen sind rhythmisch hochpräzise gesetzt. Und das Einzigartige ist, dass ihre Texte Tragikomödien voller Leichtigkeit und Heiterkeit sind: «Hauptsache, man wird amüsiert, die Tiefe bekommt man gratis», so Judith Herzberg.  Es sind wunderbare, lebendige Rollen, die sie schreibt, die von Schauspieler*innen geliebt werden – so auch vom Ensemble des Residenztheaters.

 

Heute gilt sie als die wichtigste Schriftstellerin der Niederlande und ihr Werk wurde mit allen bedeutenden Theater- und Literaturpreisen ausgezeichnet. Neben Lyrik und Dramatik schreibt sie auch Libretti und Drehbücher. Für ihr Drehbuch «Charlotte» über das Leben der Künstlerin Charlotte Salomon kam sie 1983 nach München, um den Bayerischen Filmpreis aus den Händen von Franz Joseph Strauß entgegenzunehmen.

 

Die Premiere von «Die Träume der Abwesenden» fiel auf den Tag der Bundestagswahl. Viele Journalist*innen waren mit der Berichterstattung zu sehr in Beschlag belegt, ob das der Grund war, dass keiner die Gelegenheit nutzte, um mit der mittlerweile sehr zurückgezogen lebenden Holocaust-Überlebenden Judith Herzberg ein Gespräch zu führen? Sie gibt auch nur sehr selten Interviews und mag eigentlich das Sprechen über ihre eigene Arbeit nicht. Ihr Denken, ihr Schreiben und auch ihr Reden sind ein nie enden wollendes Ringen um den genauen und richtigen Ausdruck, den wir von ihren brillant geschriebenen Dialogen kennen und dieser Maxime folgt sie auch im persönlichen Gespräch.

 

Umso glücklicher waren wir, als sie etwa zwei Monate nach der Premiere einem Gespräch mit der Dramaturgie für die Webseite zustimmte. Trotz der zum Teil euphorischen Kritiken (gerade erst wurde die Aufführung mit dem Stern der AZ ausgezeichnet) und des durchweg positiven Publikumszuspruchs vermissten wir ihre persönlichen Gedanken zur unserer bewegten Zeit und ihre Kommentare zu unserer Arbeit. Sie verstand unser Anliegen. Das Gespräch fand am Telefon statt und kann trotzdem nicht an dieser Stelle veröffentlicht werden. Denn nach der Transkription vermisste sie in ihren eigenen Antworten jene feine sprachlichen Nuancierung, die sich auch nach einem weiteren Korrekturdurchgang ihrem Gefühl nach einfach nicht einstellen wollten.

 

So erklärte sie uns den niederländischen Originaltitel «Leedvermaak», der «Schadenfreude» bedeutet (so lautete auch der ursprüngliche Titel des Stücks im Deutschen, der mittlerweile «Leas Hochzeit» heißt) – aber Schadenfreude im Niederländischen sei weniger hämisch als im Deutschen. Zieht man das Wort auseinander in «leed vermaak» kommt man auf eine weitere Bedeutung: «Leiden vererben». Aber das würde man im Niederländischen nur verstehen, wenn man ganz genau zuhöre: Nuancen eben.

 

Im Gespräch war es ihr auch wichtig darauf hinzuweisen, dass ihre Stücke nicht ausschließlich über die Leidensgeschichte der Juden gelesen haben möchte. Es geht ihr um alle Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, auch um die nichtjüdischen Figuren wie Leas Kriegsmutter Riet und den Klempner Klujters, deren Leben durch den Krieg ebenfalls beeinflusst seien, selbst wenn sie nicht direkt mit dem Tod bedroht waren.

 

Auch mit 87 Jahren ist Judith Herzberg noch immer eine sehr produktive Schriftstellerin. In ihrem jüngsten Stück «Rivka» zeigt sie ein junges Ehepaar, das gezwungen ist, sein Kind wegzugeben, um es zu retten.Bei Rivka könnte es sich eigentlich um Lea handeln, die von ihren Eltern Ada und Simon ebenfalls in einem Versteck auf dem Land untergebracht wurde, um sie vor dem KZ zu beschützen. Aber «Rivka» ist für Judith Herzberg kein Stück über das Jahr 1941 und nicht das Stück Null zu ihrer Trilogie.

 

Wir wünschten uns eine Fortsetzung der Trilogie. In dem sie gemeinsam mit ihren wunderbaren Figuren in die Zukunft schaut. Wie geht es wohl weiter mit Dory, Lea, Nico, Dujfe, Zwart, Hans, Pien, Chaim, Xandra und Isaak? Wer kommt noch dazu? Ein Kind von Chaim und Xandra vielleicht?

 

Eine ganz andere Trilogie wird der Regisseur Stephan Kimmig im April 2022 am Residenztheater zur Aufführung bringen: Knut Hamsuns «Spiel des Lebens». Geplant war diese schon für das Frühjahr 2020, durch die Pandemie hat sich eine neue Abfolge der Premieren ergeben, die nun aber für die inhaltliche Ausrichtung unseres Spielplans logisch und konsequenter scheint. «Spiel des Lebens» ist ein frühes Werk des norwegischen Dichters Knut Hamsun. In der sogenannten «Kareno-Trilogie» porträtiert er einen sich radikalisierenden Philosophen, der an die Spitze einer politischen Partei aufsteigt. Fast scheint es, als hätte Hamsun seinen eigenen späteren Lebensweg vorweggenommen; er wurde später selbst Nationalsozialist und musste sich dafür in der norwegischen Nachkriegsgesellschaft verantworten.

 

Gemeinsam mit dem Herzberg-Abend sowie den beiden Inszenierungen «Es waren ihrer sechs» – eine sehr zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Erbe der Geschwister Scholl – und «Urteile (revisited) – Nach dem Prozess», worin es um die politischen Morde des NSU und dessen Folgen in München geht, zeigt uns die Beschäftigung mit diesen Stoffen: Die Vergangenheit ist niemals abgeschlossen und unsere Gegenwart bestimmt unsere Zukunft. Sie wird nicht nur bei den Wahlen verhandelt, sondern jeden Tag: «Meine Erinnerungen drehen sich um die Zukunft» («Die Träume der Abwesenden»), nicht nur am Theater.

 

Almut Wagner