UMSTURZ!

In einem Gastbeitrag zu Aischylos' «Orestie» beschreibt Prof. Ulrich Haltern den «Umsturz in die Demokratie».

 

Wir stürzen. Eben waren wir noch obenauf; die Griechen, mit Agamemnon an der Spitze, haben endlich Troja besiegt und kehren heim. Doch der Sieg ist faul. Er ist gebaut auf die Ungeheuerlichkeit, dass Agamemnon, aus dem fluchbeladenen Geschlecht der Atriden, seine Tochter Iphigenie geopfert hat, um die zürnenden Götter zu besänftigen. Und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Klytämnestra, die trauernde Mutter, ermordet ihren im Triumph heimkehrenden Mann und begründet zusammen mit Aigisth, einem weiteren Opfer der Atriden, eine grausame und schlechte Herrschaft in Argos. Und die Spirale dreht sich weiter. Ihr ruheloser Sohn Orest ermordet – aus Rache für den Vatermord und auf Befehl von Apoll – seine Mutter Klytämnestra. Das alte göttliche Gesetz spult sich ab und badet uns im Blut: Ihm folgend, wollen die Erinyen Orest sterben sehen, um den Muttermord zu rächen. Nichts ist in unserer Hand, alles folgt einer tragischen Logik. Fremdbestimmt scheinen wir an ein großes Rad gebunden, das mit uns zu Tale saust. Wir stürzen und stürzen.

 

Orest wehrt sich mit dem guten Argument, dass er ebenfalls göttlichen Willen vollzogen hat. Die Götterschar tritt auseinander: Muss er sterben? Die Erinyen als Vollstrecker des alten Blutrachegesetzes stehen gegen Apoll als Entsühnungsgott; auf seine Seite schlägt sich die herbeieilende Athene. Was nun? Die Götter sind ratlos: «Es ist zu schwierig», seufzt Athene und überantwortet die Entscheidung einem Gericht aus menschlichen Entscheidern.

 

Es ist dieser Moment, der den Sturz stoppt. Nicht unvordenkliches, gottgegebenes und unerbittliches Recht vollzieht sich selbst, sondern Recht steht gegen Recht. Es geht nicht länger nur um die konkrete Frage (Blutrache oder nicht), sondern um die Basis der Entscheidung über sie: Was gilt? Wie will man zusammenleben? Die Positionen vereinseitigen sich, der Streit vergrundsätzlicht und verschärft sich. Nichts ist mehr vorgegeben, denn es gibt jetzt nicht mehr das eine Recht, vor dem alle anderen Behauptungen falsch sind; wir müssen selbst entscheiden. Das ist die Urexplosion des Politischen: Das, was wahr ist (hier das althergebrachte Gesetz), und das, was gelten soll, treten auseinander. Das, was gelten soll, kann jetzt nicht mehr philosophisch oder gar religiös, sondern muss zum ersten Mal von uns selbst – also politisch – hergestellt werden. Aus dem Sturz wird ein Umsturz in die Demokratie und die Freiheit.

 

Vor diesem Gründungstheater stehen wir heute anders als die Griechen, die keine Griechen vor sich hatten und deshalb über keine Blaupause verfügten, wie man mit solcher Freiheit umgeht. Nur so lässt sich wohl der Optimismus erklären, mit dem die Eumeniden am Ende «freut euch, und noch einmal, freut euch, seid gesegnet, alle hier in der Stadt» schwadronieren. Wir können nicht nur entscheiden, sondern wir müssen auch entscheiden; niemand nimmt uns das ab, niemand hilft uns. Das stürzt uns in ein Problem nach dem anderen.

 

Zum einen geht mit der Entstehung des Politischen eine verstörende Erosion von selbstverständlichen Gewissheiten einher: All that is solid melts into air. Die Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten sind wie Sand am Meer: Vor uns liegt die soziale Welt in all ihrer Komplexität. Was ist der Fall? Wie wollen wir leben? Was soll man priorisieren und an welche Grundsätze soll man sich dabei halten? Das Verhältnis von Freiheit, Zwang, Regel und Maßstab muss neu justiert werden. In Athen gründete sich eine Stimmungsdemokratie, die auf den Moment der Entscheidung in Präsenz und unter Zeitdruck fokussierte. Das ist heute weder angemessen noch möglich: Wir bearbeiten die Komplexität der Welt durch ihrerseits komplexe Herrschaftssysteme, die eine Tyrannei der Mehrheit verhindern und die Qualität der Problemlösung erhöhen sollen, mit Mitteln wie «checks and balances», Beratergremien, Justiz und Haushaltsberechnungen. Das ist kompliziert, intransparent und schwerfällig. Der demokratische Souverän ist heute ständig gestresst, misstrauisch und unzufrieden. Zunehmend werden zuverlässige Informationen schemenhaft und fallen als Grundlage für belastbare demokratische Entscheidungen aus; die Dauer demokratischer Entscheidungsprozesse wird dem «Sofortismus» apokalyptischer Forderungen nicht gerecht; soziales Engagement zieht sich aus dem komplexen Parteienmilieu in monothematische, moralisch homogene kleine Zirkel zurück, in denen Öffentlichkeit lediglich simuliert wird; Freiheitsbegriffe werden abenteuerlich reduziert. Wie Athene («zu schwierig») kapitulieren wir vor der Komplexität.

 

Zum anderen entsteht ein Spannungsverhältnis von individueller und kollektiver Selbstbestimmung. Demokratie kann sich gegen Autonomie wenden, wie man 1 ½ Jahrzehnte nach der Orestie in Sophokles´ «Antigone» sehen kann: Das Bestattungsverbot ist einerseits Ergebnis eines legitimen politischen Prozesses, andererseits kann es individuell als illegitim bekämpft werden. Für beide Seiten, das Individuum und das Kollektiv, ist das herausfordernd und häufig tragisch. Prinzipien scheinen hier nicht zu helfen, insbesondere dann nicht, wenn es an einer geteilten Wirklichkeit fehlt. Demokratie ist zutiefst ambivalent und unbehaglich.

 

Ist das – nach dem Umsturz in die Demokratie – der Umsturz der Demokratie? Lesen wir das Gründungstheater der Orestie als Vorbote des Untergangstheaters demokratischer Selbstherrschaft?

 

Aber Herrschaftssysteme, die sich nicht auf die Anerkennung der anderen als Freie und Gleiche stützen, können es auch nicht besser. Auch wenn wir ständig narzisstisch davon gekränkt sind, dass sich die Demokratie um die Freiheit und die Themen der anderen ebenso kümmert wie um unsere eigenen und dass Demokratie weder umfassende Gleichheit noch ein gutes Leben verspricht: Aufgeben wollen und werden wir sie nicht. Wir wissen, dass wir nicht wie an ein großes Rad gebunden zu Tale sausen wollen; seit Orest stürzen wir nicht länger, sondern handeln.

 

 

Ulrich Haltern

 

Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Rechtsphilosophie

an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Direktor des Munich Center for Law and the Humanities