WHO THE F**K IS PLATONOW?

In «Platonow» tritt die Hauptfigur erst nach einigen Szenen auf. Die bereits versammelten Gäste fragen sich immer wieder, wo er denn bleibt, was aus ihm geworden ist, erinnern sich daran, was er einmal erzählt hat. Fast wortwörtlich fallen hier Sätze für die Samuel Becketts Meisterwerk «Warten auf Godot» berühmt ist:

«Komm wir gehen! – Wir können nicht. – Warum nicht? – Wir warten auf Godot. – Ach ja.»

Ungefähr so fristen auch Tschechows Sommerfrischler*innen ihre Existenz. Fast jede und jeder hat hier noch ein Hühnchen zu rupfen, eine Rechnung zu begleichen, eine Heiratshoffnung zu enttäuschen. Und da Tschechows Figuren entweder stumm leiden oder aber die Wahrheit aussprechen – das reicht von «Sie sind aber dick geworden» bis zu «Ich möchte Ihnen ein Messer in den Bauch rammen» – ist auch regelmäßig jemand dabei, aus Protest abzureisen. Doch meist ist dann gerade das Wetter schlecht, das Essen noch nicht serviert oder das Feuerwerk beginnt …

 

Dabei wissen eigentlich alle, dass der Lebensstil, der hier zelebriert wird, auf Pump gebaut ist und die Pfändung kurz bevorsteht. Dass es so vielen Menschen schlechter geht, dass anderswo gehungert wird, während man hier den Hummer auftischt. Dass die Hitze droht, die nächste Ernte zu vernichten. Welche Tierarten vom Aussterben betroffen oder bedroht sind und dass es um den Wald nicht aufs Beste bestellt ist. All das ist diesen Figuren klar und sie wollen das in Ordnung bringen. Aber nicht heute, sondern morgen. Denn heute wird erstmal gelebt, gehofft oder geträumt.

 

Thom Luz und sein Ensemble erzählen nicht die vordergründigen individuellen Probleme und Dramen dieses Personals, die in der realistischen Tradition oft im Vordergrund stehen, sondern machen mit Tschechow-Texten absurdes Theater, dass die persönlichen Details gleichermaßen der Situationskomik, der Gegenwartsnähe und der Metaphysik opfert. Und er macht daraus Musik. In seinem Bühnenbild klingt jeder Schritt und vertont so auch die verlegene Geste und den stummen Schmerz.

 

Während in Tschechows Dramen viel, aber meist nebenbei musiziert wird, sind einige seiner Erzählungen nicht an einer Handlung entlang, sondern nach musikalischen Prinzipien, wie etwa der Form einer Sonate, komponiert. Auf beiden Ebenen ist die Musik ein Mittel, die vordergründige Tristesse zu versöhnen, Harmonie in dissonante Beziehungen zu bringen und der leeren Zeit einen Rhythmus zu verleihen. Am besten beschreibt vielleicht Tschechow selbst seine ganz eigene Poesie des Stillstands in der Erzählung «Feinde»: «In der allgemeinen Erstarrung lag etwas Anziehendes, Herzergreifendes, eben jene zarte, kaum zu erfassende Schönheit des menschlichen Leides, die man erst mit der Zeit zu verstehen und zu beschreiben lernt und die wohl allein die Musik wiederzugeben vermag.»

 

Ob während alldem auch Platonow den Weg auf die Bühne findet, wird an dieser Stelle nicht verraten.

 

Katrin Michaels