«Freedom’s just another word for nothing left to lose.»

Regisseur Stefan Bachmann im Gespräch mit Dramaturgin Barbara Sommer

Warum hat dich «Graf Öderland», dieses eher unbekannte Stück von Max Frisch, interessiert?

Vielleicht interessiert mich gerade der Umstand, dass dieses Stück so selten gespielt wird. Dabei war es nach eigenen Aussagen das Lieblingsstück von Max Frisch. Er hat davon mehrere Fassungen erarbeitet. Trotzdem wurde es von der Kritik jedes Mal als nicht besonders gelungen empfunden. Der Stoff hat eine größere Offenheit und Komplexität als andere Stücke von Frisch. Das wollte man ihm offensichtlich nicht durchgehen lassen. Ich finde darin aber ein starkes Echo auf unsere aktuelle Gegenwart.

Kannst du deine ersten Eindrücke skizzieren?

Ein Staatsanwalt bricht aus seinem wohlgeordneten Leben aus. Er befreit sich von den Fesseln seiner erkalteten Ehe, vor allem aber von der Gleichförmigkeit eines Alltags, dessen Ordentlichkeit er als erstickend und menschenfeindlich erlebt. Die Suche nach Freiheit führt über Leichen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Er entdeckt die Axt als Instrument der lustvollen Überwindung des bürgerlichen Daseins. Damit wird er von den Menschen als der mythische Graf Öderland erkannt, der mit der Axt in der Hand mordend durch die Lande zieht. Aus der rein individuellen Befreiung wird unverhofft eine Rebellionsbewegung. Viele sehen in ihm eine charismatische Führungspersönlichkeit. Ein Anhänger bringt es auf den Punkt: «Es muss etwas geschehen.» Was geschehen muss, bleibt allerdings immer etwas unklar, was ihm bei seinem Aufstieg allerdings nicht schadet. Ganz im Gegenteil, am Ende wird er Regierungschef und landet damit eigentlich wieder genau in der Unfreiheit, der er entrinnen wollte. Das Dilemma der meisten Revolutionen stellt sich ein, das Frisch auf die Formel bringt: «Wer, um frei zu sein, die Macht stürzt, übernimmt das Gegenteil der Freiheit, die Macht.» Darüber hinaus finde ich es spannend, wie Frisch in dem Stück beschreibt, auf was für einem hauchdünnen Boden all das steht, was wir zivilisatorische Errungenschaften nennen, also Demokratie, Menschenrechte, friedliches Miteinander. Da braucht nur ein Riss aufzugehen, und diese Konstruktionen und Verabredungen, diese Fantasie bricht zusammen wie ein Kartenhaus.

Was bedeutet dieses Bedürfnis nach Gewalt, Mord und Totschlag? Inwiefern ist das ein Thema für dich?

Gewalt ist ein Teil von uns. Sie schlummert in uns wie ein böses Tier, das jederzeit erwachen kann. Das Theater war schon immer ein Ort exzessiver Gewaltdarstellungen. Auf fiktionaler Ebene gibt es sie heute auch im Kino und in Videospielen. Wenn ich mir heute die unzählbaren Serien anschaue, kommen sie mir vor wie eine Olympiade der Grausamkeiten. Ästhetisierte Gewalt hat ein hohes Unterhaltungspotenzial, sie ist lustvoll, anarchisch, und manchmal hat sie auch eine erhabene Kraft. Ich würde kein Theater machen, wenn mich Gewalt nicht faszinieren würde.

Aber das ist ja jetzt nicht gerade typisch für Max Frisch.

Das landläufige Bild von Max Frisch ist dieser Intellektuelle mit der dicken Brille und der Pfeife im Mund. Das bildet
ja nicht ab, was sich in ihm abspielt. Ich finde, dass seine Literatur voller Gewaltszenen ist: In «Die große Wut des Philipp Hotz» muss sich die Frau im Schrank verstecken, weil der Hotz so ausrastet. In «Biedermann und die Brandstifter» wird ein ganzes Haus in die Luft gejagt, ja eine ganze Stadt in ein flammendes Inferno verwandelt. Und Stiller haut auf der ersten Seite gleich mal einem Zöllner in die Fresse.

Der Staatsanwalt in diesem Stück hat eine große Sehnsucht nach dem Ausbruch aus seinem Alltag. Flüchtet er, um diesem Bedürfnis Luft zu verschaffen, aus der Realität in eine Traumwelt?

Ich glaube, es ist eine der vielen Fallen in diesem Stück, Traum und Realität als Gegensätze zu sehen. Fantasie wird Wirklichkeit, und Wirklichkeit bleibt Fantasie. Das ist doch eigentlich das Wesen von Theater überhaupt. Wenn der Staatsanwalt tatsächlich einen Traum träumt, so ist es ihm jedenfalls nicht möglich, jemals wieder aus ihm zu erwachen. Und damit hat sein Traum die Unschuld verloren. Es gibt die totale Freiheit nur auf Kosten anderer. Und doch stellt Frisch die Frage, ob ein Leben, das immer verschoben wird, ein Leben, das in der Hoffnung verbracht wird, dass es einmal besser wird, überhaupt ein richtiges Leben sei. Es ist tatsächlich eine zentrale Frage auch unserer Zeit: Wie können wir ein Leben leben, das nicht fremdbestimmt ist. Und was passiert, wenn wir ausbrechen. Wir wissen nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber wir wissen, dass es anders werden muss, damit es besser werden kann.

«Man hat mich geträumt» ist sein letzter Satz, was auch seine Beziehung zu dieser Bewegung symbolisiert.

Ja, man hat ihn «erträumt». Er lebt und macht, was viele Menschen träumen. Eine Frage, die uns auf den Proben umtreibt, ist, wer träumt eigentlich wen? Aus diesem Gedanken entsteht ein komplexes Geflecht der Ebenen. Jedenfalls habe ich den Eindruck, dass man dem Stück nicht beikommt, indem man das, was vielleicht nicht plausibel erscheint, versucht, in eine vermeintliche Logik zu bringen. Das Ziel ist eher, noch mehr Verwirrung zu stiften, den Weg der Verkomplizierung zu gehen. Das fühlt sich im Moment paradoxerweise konkreter und wahrer an. Am Anfang des Stücks steht ja auch eine Geschichte, die gerade durch ihre Unerklärbarkeit den Staatsanwalt aus der Bahn wirft: Ein braver Bankangestellter hat im Affekt einen Mord begangen, für den es kein Motiv gibt. Eine scheinbar absurde Tat, die eine symbolische Kraft entfaltet: Ich morde, also bin ich.

Diese Irritation ist wahrscheinlich durchaus zeitlos.

Genau, der Mörder kann sich seine Tat ja selbst nicht erklären. Er mochte den Portier sogar, den er erschlug. Aber dieses immer Gleiche seines Alltags, immer nur ein Rädchen im Getriebe zu sein, seine Arbeitswelt in einer Bank, deren Geschäfte er nicht versteht, hat ihn zur Axt greifen lassen. Entfremdete Arbeit, die gibt es doch heute noch genauso. Vermutlich hat sich einfach das Repertoire an Ablenkungsmöglichkeiten vervielfacht. Man ist geblendet von den scheinbar unendlichen Varianten individueller Lebensformen, die von außen gesehen aber uniform und stereotyp sind. Man soll funktionieren, damit man als Kon-
sument funktioniert, und dies am besten in kompletter Vorhersehbarkeit. Der Mörder jedenfalls scheint sich im
Gefängnis freier zu fühlen als in seinem bisherigen Leben.

Kommen wir noch einmal auf diese Bewegung zu sprechen. Du hast sie eine Bewegung ohne klares Ziel genannt. In der Aufführungsgeschichte kam es auch vor, dass in der zweiten Version des Stücks dieser Graf Öderland von der Kritik als Paraphrase auf Hitlers Werdegang gelesen wurde. Wie kann so etwas geschehen?

Ich erfahre immer wieder, dass es ein großes Bedürfnis nach eindeutigen Aussagen gibt. Worum geht es? Was bedeutet es? Was willst du damit sagen? Wie lautet deine Botschaft? Dieses Bedürfnis wird sich aber auch, oder gerade an diesem Stück nicht befriedigen lassen. Jeder Versuch, es eindeutig zu machen, muss eigentlich scheitern, weil es um das Unbegreifliche geht. Die intuitive Kraft des Stücks wehrt sich gegen solche Fragen. Vielleicht war Frisch selbst überfordert von seinem eigenen Stoff. Das macht es bei allen Schwächen ziemlich sympathisch. Es scheint, als habe sich Frisch in ein Thema verliebt, gerade weil er es nicht zur Gänze greifen konnte. Es ist auf jeden Fall das surrealistischste Stück, das er je geschrieben hat.

Im Bezug dazu ist sicherlich auch die Bühne von Olaf Altmann erwähnenswert, mit der ja besonders umgegangen werden muss, weil es eine Herausforderung ist, sie zu bespielen.

Definitiv. Frisch hat die Räume im Stück ja sehr detailliert beschrieben. Das sind meist sehr genrehafte Szenerien, vom Arbeitszimmer des Staatsanwalts über das Gefängnis, eine Köhlerhütte im Wald und ein Grandhotel bis zur Kanalisation unter der Residenzstadt und vielen anderen Schauplätzen. Zu jedem Ort fallen mir sofort hundert Filme ein. Olaf bedient mit seinem Bühnenbild keinen dieser Orte, sondern hat eine abstrakte Form entworfen, die ich milde gestimmt einen «Traumtrichter» nennen würde, in etwas angespannteren Momenten aber einfach eine Zumutung. Diese Bühne zwingt mich und vor allem dann auch die Spieler*innen zu einer extrem physischen, oft abstrakten, immer aber sehr prägnanten Spielweise. Der Raum ist ein bisschen wie der Abgrund, in den der Staatsanwalt hinein- oder hinuntergezogen wird. Und bei jeder Szene, die wir darin spielen, müssen wir uns immer wieder fragen: Was ist wirklich wesentlich?

Abschließend würde ich dich bitten, noch etwas zum Thema «Freiheit» zu sagen. Was bedeutet denn «Freisein» für dich, vielleicht auch ganz abgesehen vom Stück?

«Freedom’s just another word for nothing left to lose.» Besser als Janis Joplin kann ich es auch nicht sagen.