«DER ENTGRENZUNGSORGIAST»

«Tartuffe», das fünfzehnte von dreiunddreißig überlieferten Dramen Molières, war jene Komödie, die unmittelbar nach ihrer Uraufführung 1664 mit dem Bann des Aufführungsverbots belegt wurde, die klerikale Kräfte veranlasste, den Dichter auf den Scheiterhaufen zu wünschen, und einen fünfjährigen erbitterten Kampf Molières um die Aufhebung des Verdikts durch den französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. zur Folge hatte. In der Blüte des Barock, als die katholische Kirche den Versuch unternahm, Transzendenz und Immanenz, Gott und Welt, Strenge der Form und überbordende Sinnesfreude und Ornamentik zusammenzudenken, sah sich die einflussreiche katholische «parti des dévots» durch Molières Figurenzeichnung des Tartuffe angegriffen und zeigte sich brüskiert. Es ging Molière aber nicht um theologische Fragestellungen, sondern um die Kritik an herrschenden gesellschaftlichen Missständen, um die Beschreibung der jeder reaktionären kirchlichen Doktrin inhärenten Doppelmoral. Molière wandte die Mittel der Komödie zum Zwecke der Desillusionierung an, zur Freilegung der Realität hinter dem Schein. Jean Anouilh sah in Molières Komödien deshalb «die schwärzesten Theaterstücke der Literatur aller Zeiten».

 

Die deutschsprachige Aufführungsgeschichte von Molières «Tartuffe» ist eine Geschichte der Übersetzungen und Adaptionen. Wie diese Dichtung ohne fest umrissene Sprachgestalt im Deutschen zu klingen habe, was diesbezüglich Werktreue meinen könnte, ist schwer zu fassen: Wird eine Prosaübersetzung dem Original per se weniger gerecht als der Versuch, den französischen Alexandriner in ein adäquates deutsches Versmaß zu übertragen, das mit zwei Silben weniger auszukommen hat als das Original? Tankred Dorst beklagte gängige Übersetzungen als «museale Nachkonstruktionen, operettenhaft betulich, philologisch altertümlich». Nun nimmt der Kölner Autor und Musiker PeterLicht Molières Komödiendichtung zum Ausgang seiner sprachverspielten und radikal die Gegenwart ins Visier nehmenden Neudichtung «Tartuffe oder das Schwein der Weisen». PeterLicht, der mit «Der Geizige» und «Der Menschen Feind» bereits zwei dramatische Texte nach Molière verfasst hat, löst dessen Komödie aus der gesellschaftspolitischen Realität des französischen Absolutismus, befreit sie von der Patina des 17. Jahrhunderts, rekontextualisiert das für uns heute nur unzureichend lesbare Sittengemälde, überträgt die Molière’schen Figuren in die Gegenwart und bringt sie uns als Zeitgenoss*innen nahe.

 

Dabei operiert er durchaus mit dem Personal des Originals, dieses ist allerdings weder in ein Glaubenskorsett noch in eine autoritäre patriarchale Ordnung eingezwängt. Zwar ist der «Sozialkreis» auch in neoliberalen Zeiten von den finanziellen Mitteln des Familienoberhaupts Orgon abhängig, dessen daraus resultierende Stellung ist aber deutlich marginalisiert. Während die einzelnen Familienmitglieder bei Molière die Freiheit ihrer vermeintlich ausschweifenden Lebensführung gegen die Einflussnahme Tartuffes, der hinter der Maske der Gottesfürchtigkeit und Tugend ausschließlich an monetären und sexuellen Bedürfnisbefriedigungen interessiert ist, zu verteidigen versuchen, sind deren literarische Nachfahren einem Übermaß an Freiheit(en) ausgesetzt: In säkularen Zeiten herrscht der Horror Vacui. Man erhofft und fürchtet das Erscheinen Tartuffes, er dient als Wunschmaschine und Projektionsfläche. Für Orgon, der «gerne hineingreifen würde in die Welt, irgendetwas greifen oder ergriffen sein» möchte, gilt er als Garant, seine «Hände in das Flackern der Abstandslosigkeit zu halten». Denn PeterLichts Tartuffe gibt sich von Anfang an und im wahrsten Sinn des Wortes als «Schwein» zu erkennen – als grunzendes, sabberndes, ekelhafte Flüssigkeiten absonderndes, olfaktorisches Missvergnügen, dessen Sprache sich – zumindest in seiner Vorstellung – ausschließlich aus Penissen formt. Seine animalische Existenz lässt auf Unmittelbarkeit, Aktionismus und Ekstase hoffen und verfolgt doch nichts weiter als die konventionelle männliche «Ausstülpungsideologie» des Kapitalismus. Und darin liegt die eigentliche (Ent-)Täuschung: Denn Tartuffes tierisches Lustgebaren ist in eine Marktlogik eingebettet, der Libertin und Entgrenzungsorgiast entpuppt sich als «stinknormaler Sexschamane», als Kursgebührenkrämer einer Produktpalette sexueller und spiritueller «Peak-Erfahrungen». Auch er spricht dieselbe Sprache wie alle anderen – auch er ergeht sich in Selbstbespiegelungen und Befindlichkeitsdiskursen. Doch bevor PeterLichts Figuren das Zermürbungspotenzial ihrer Smalltalk-Endlosschleifen unter Verwendung der rhetorischen Stilmittel der Repetition und der Zitation zur Gänze ausschöpfen, drängt Sinn ins (Sprach-)Bild: Der «Chor der Erkenntnis» stimmt in ein Requiem ein, denn Eros wurde längst auf dem Altar des Neoliberalismus dargebracht und seiner Göttlichkeit beraubt. Und wollten wir Byung-Chul Han Glauben schenken, vermag es allein der Eros, das Ich aus der narzisstischen Verstrickung in sich selbst zu befreien. Das Begehren des Anderen käme dann einem metaphysischen Antidepressivum gleich. Aber was, wenn wir im Anderen bloß uns selbst erkennen können, und die Sprache des Anderen im dröhnenden Lärm der Hyperkommunikation ungehört verklingt? Doch bevor die «miteinander connectete soziale Skulptur» sich der Tragweite und Ausweglosigkeit ihres Lebens in der realexistierenden gesellschaftlichen Dystopie bewusst werden müsste, belegt sie Selbstoptimierungskurse ad infinitum und geht in der konfliktfreien Zone der Uneigentlichkeit verloren.

 

Constanze Kargl