DEM VERLUST RAUM GEBEN

EIN GESPRÄCH MIT MAGDALENA SCHREFEL

Du entwirfst in deinem Stück «Archiv der Tränen» – wie der Titel ahnen lässt – einen Ort, an dem Tränen gesammelt, katalogisiert und aufbewahrt werden. Was war für dich ausschlaggebend, ein solches Archiv für die Bühne zu erfinden?

 

Mit «Archiv der Tränen» habe ich das erste Mal die Frage nach dem Raum, die mich im Schreiben immer schon beschäftigt hat, zum zentralen Ausgangspunkt eines Textes gemacht: Was wäre, es gäbe einen Ort, an dem unsere Tränen als Träger von Erfahrungen, Erlebtem und Gesagtem aufbewahrt würden? Wer würde dort ein und aus gehen? Und wer dort arbeiten? Welcher Ordnung würde das Archiv folgen? Und was, wenn diese Ordnung durcheinanderkäme? Diese Fragen in einem Stück für die Bühne zu bearbeiten, finde ich spannend, weil die Bühne ja selbst ein Raum der Räume ist, der jeden Abend ein anderer werden kann, und das Theater damit selbst zum säkularen Erinnerungsort, zu einem Archiv der Geschichten wird. Entstanden ist der Text in den Jahren 2020 bis 2022 und damit in einer Zeit, in der kollektive Orte – Theater, Ausstellungsräume, Bibliotheken und Konzertsäle – immer wieder für die Allgemeinheit verschlossen waren: Der Text als Raum, in dem sich eine kollektive Erfahrung niederschlägt, für einen Raum, in dem Erfahrung kollektiv und momentan stattfindet.

 

Was ist das Besondere an Tränen? Und warum braucht es einen imaginären Ort, an dem sie archiviert werden?

 

An Tränen fasziniert mich ihre Vergänglichkeit und die Spannung, die sich daraus ergibt, dass jede Träne im Moment des Weinens eine ganz konkrete Bedeutung hat und gleichzeitig nur für einen ganz kurzen Moment sichtbar ist – bis du sie eben wegwischst. Wer Tränen trocknen lässt, der weiß, dass ihr Salz brennt. Dieses salzige Brennen habe ich versucht, in einen Text zu gießen.

 

Tränen sind als Phänomen zwischen Körper und Psychischem kulturell geformt. Ihr Ausdruck wandelt sich durch die Geschichte. Was ist für dich die Träne im Hier und Heute?

 

Die Frage ist ja eher: Was ist sie nicht mehr – verpönt, verschrien, peinlich; unrühmlich, privatistisch, weiblich gelesen und verletzlich noch dazu; oder ist sie all das nach wie vor, aber gibt es Begegnungen, Momente und Räume, in denen sie darüber hinaus auch noch schön, verwegen und lustvoll, mutig und kokett, männlich und zerbrechlich sein kann?

 

Neben der Archivarin und ihrem Mitarbeiter Fiume sind es die Geschichten von vier Figuren, die sich im Dialog mit dem im Archiv gesammelten Material herauskristallisieren. Tanja und Aleks, ein Paar, dessen Kinderwunsch sich nicht erfüllt und dessen Beziehung darüber zerbricht, ein Paketbote, der nicht weinen kann, und Vera, eine Frau, die um ihre Schwester trauert. Gibt es etwas, das die Geschichten dieser Figuren verbindet?

 

Ich glaube, Verlust ist auf jeden Fall ein Motiv, das sich durchzieht: Für Tanja und Aleks der Verlust dessen, was sie sich erwünscht und erhofft haben, oder dessen, was man hatte, wie im Fall von Vera eine Schwester, und gewissermaßen auch dessen, was man nicht hatte, wie im Fall des Paketboten: als Lücke, als Leerstelle. Wie sich Verlust erzählen lässt, beschäftigt mich gerade sehr, also auch über das «Archiv der Tränen» hinaus. Die Frage ist ja auch, was die gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Dimension von Verlust ist, ob die Trauer dieser Figuren nicht eigentlich auch immer eine Trauer um die Welt beinhaltet, wie es vielleicht das Archiv selber dann den Figuren auch nahelegt. Ich bin der festen Überzeugung, dass Verlust in den kommenden Jahren und Jahrzehnten etwas ist, das uns gesamtgesellschaftlich beschäftigen wird, und dass wir Erzählungen brauchen, die uns darin begleiten, genauso wie Orte, an denen dem Verlust gemeinsam Raum gegeben werden kann. Und ich habe die Erfahrung gemacht, als Zuschauerin, dass das Theater ein solcher Ort sein kann.


Die ungekürzte Version dieses Gespräches finden Sie im Programmheft zu «Archiv der Tränen», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als Onlineversion zum Download hier.