DARF GEWALT AUF GEWALT FOLGEN?

Ein Gespräch mit Nora Schlocker

 

Hugo von Hofmannsthal arbeitete beinahe sein ganzes Leben an «Der Turm», der in drei unterschiedlichen Textfassungen vorliegt, von denen keine als die endgültige bezeichnet werden kann. Am Residenztheater wird die letzte Fassung von 1927, die sogenannte Bühnenfassung, gezeigt. Warum hast du dich für diese entschieden und was sind die markantesten Unterschiede zwischen den einzelnen Versionen?

Ich habe versucht, die Stücke eher als Steinbruch zu begreifen. Anfänglich habe ich die Fassungen gar nicht voneinander getrennt wahrgenommen, sondern fand es eigentlich aufregend, dass ein Autor sein ganzes Leben um ein Thema herum schreibt. Hofmannsthal «scheitert» eigentlich an der Darstellbarkeit dessen, was er versucht auf die Bühne zu bringen. Er versucht in diesen Fassungen auf unterschiedliche Art und Weise, mit unterschiedlichsten Bühnenmitteln des Inhalts Herr zu werden, weshalb die Fassungen erstmal in unterschiedliche Richtungen zeigen. Ich finde, er hat sich von der ersten Fassung, die ja noch in Versen geschrieben ist, bis zur Prosa der Bühnenfassung sprachlich entwickelt. Auch wenn das Versmaß spannend ist, berührt mich die Prosa der späteren Fassungen viel mehr, weil ich da den Eindruck habe, dass Hofmannsthal versucht, der Unschuld des Thronfolgers Sigismund Raum zu geben und sie mit den Mitteln der Sprache zu überformen. In der Bühnenfassung geht es auch darum, die Figur des Königs anders zu greifen, anders auszubauen. In den früheren Fassungen bricht der Handlungsstrang des Königs unmittelbar ab. In der letzten Fassung führt Hofmannsthal den König an ein Ende, das ich großartig finde. Er wird nach seiner Absetzung in eben jenen Turm geworfen, in den er sein eigenes Kind 22 Jahre lang einsperren ließ. Aber auch die sogenannte «Kinderkönig-Fassung» von 1925 hat mich in der Vorbereitung beschäftigt. Und zwar hinsichtlich dessen, wie unser Abend endet. Braucht es Hoffnung? Brauchen wir die Waisen des Krieges, die den Erwachsenen die Macht abnehmen, um ihre Zukunft in einer verwüsteten Welt selbst zu verwalten?

 

«Der Turm» ist ein sehr personalintensives dramatisches Werk, das sich selten auf Spielplänen findet. In deiner Inszenierung wird der Abend von sechs Schauspieler*innen getragen. Wieso kommt es zu dieser personellen Engführung?

Zum einen haben wir uns in der Vorbereitung, beim Erstellen unserer Spielfassung, schon von einer Vielzahl von Figuren getrennt – diverse Woiwoden, Staroste, Mundschenke und Kämmerer hielten wir nicht für zwingend, um diese Geschichte zu erzählen. Also haben wir immer weiter verdichtet, das Stück filetiert, bis wir bei dem «rohen Diamanten» angelangt sind: Da haben wir Sigismund im Zentrum. Drumherum gibt es gar nicht mehr so viele Figuren. Ich hatte die Sehnsucht, dass die Schauspieler*innen diesen intensiven Abend auf der Bühne als Gruppe vertreten, so gut wie immer anwesend sind, sich die unterschiedlichen Figuren aneignen und sich mit ihnen unserem Sigismund stellen. Zum anderen gefielen mir auch die sich daraus ergebenden Doppelbesetzungen sehr. So kann Thiemo Strutzenberger als Arzt die absolute Schönheit einer Seele in Sigismund erkennen und als Kardinal-Minister in die Hölle blicken. Michael Goldberg kann den König Basilius darstellen und nach dessen Hinrichtung in einer anderen Rolle vom Tod des Königs berichten. Ein wenig schwingt da auch Calderóns «Das Leben ein Traum» für mich mit. Unterschiedliche Personen scheinen einander zu ähneln – angeblich kann ja das Gehirn keine fremden Gesichter erfinden. Wenn also alles ein Traum ist, so sind die Personen auch in einem Strudel der Bilder alle miteinander verwoben.

 

Was macht Hofmannsthals Trauerspiel für unsere Gegenwart so interessant?

Ich möchte eine Anekdote erzählen. Gestern war unsere iranische Kostümhospitantin Mehrnoosh Esmaeilimatin bei der Probe dabei und hatte plötzlich Tränen in den Augen. In der Probenpause hat sie uns dann in ihre Gedanken und Gefühle eingeweiht. Sie berichtete uns von Videos und Nachrichten aus dem Iran, die sie in den sozialen Netzwerken verfolgt. Von der Gewalt des Regimes, aber auch von dem Mut und der Gewaltbereitschaft der Demonstrierenden. Und von Reaktionen, wenn die Gewalt umschlägt, Polizisten verletzt werden und die andere Seite jubelt.

Letztendlich dreht sich alles um die Frage: Darf Gewalt auf Gewalt folgen? Die Frage, was Pazifismus in unserer Welt bedeuten könnte. Und gerade in einer Zeit, in der mitten in Europa ein Krieg tobt, stellen wir uns mit Hofmannsthal diese Fragen auf der Bühne. Sigismunds erste Frage, als er seinem Vater nach 22 Jahren Isolationshaft gegenübersteht, lautet: «Woher – so viel Gewalt?» Ist ein Machtanspruch jemals legitim? Ist all die Gewalt, die aufgeboten wird, um Basilius als König vom Thron zu stoßen, es wert? Und wenn ein Unrechtsregime, wie das des Königs, abgeschafft wird – was kann dann folgen? Könnte ein «guter» Mensch wie Sigismund ein Volk in eine bessere Zukunft führen? Kann es ein Olivier?Sigismund fragt ihn: «Wer ist das, der dir Macht gegeben hat, dass du sie unter andere austeilst?» Und Olivier antwortet: «Siehst du dieses eiserne Ding da in meiner Hand? So wie dies in meiner Hand ist und schlägt, so bin ich selbst in der Hand der Fatalität. Das, was jetzt vor dir steht, das hast du noch nicht gekannt. Was du bis jetzt gekannt hast, war Hokuspokus. Was aber jetzt dasteht, das ist die Wirklichkeit.»

 

«Wer ist das, der dir Macht gegeben hat?»