«Wir werden zum Produkt und merken es gar nicht»

Ein Gespräch mit Julia von Lucadou

 

 

«Tick Tack», 2022 im Carl Hanser Verlag erschienen, ist nach «Die Hochhausspringerin» Dein zweiter Roman. Wie lange hast Du daran gearbeitet?

 

Das Schreiben des Romans hat ungefähr drei Jahre in Anspruch genommen. Die Themen und Figuren begleiten mich wesentlich länger. Mit Verschwörungstheorien setze ich mich bereits seit acht Jahren auseinander. Und meine Protagonistin Mette hat ihr Leben schon vor längerer Zeit in einer Kurzgeschichte begonnen, die ich nie veröffentlicht habe.

 

Bei einem so langen Schreibprozess hat sich die Corona-Thematik, die vor allem im zweiten Teil des Romans wichtig wird, also erst im Laufe der Zeit ergeben?

 

Ja, das war krass. Ich bin privat schon lange vor Corona Impfgegner*innen begegnet, die sehr verschwörungsideologisch gedacht haben. Gleichzeitig hat mich die Entwicklung der rechtsextremen QAnon-Verschwörungstheorie beschäftigt, die mit Trumps Präsidentschaft aufkam. Damals hat mir mein Agent noch gesagt, für so ein ›Randgebiet‹ interessiere sich keiner. Mit der Pandemie war das Thema auf den Straßen dann plötzlich sichtbar. Diese Aktualität konnte ich nicht ignorieren. Der Großteil meines Romans war schon fertig, die Corona-Krise habe ich dann wie einen Live-Kommentar eingearbeitet. «Tick Tack» bildet die unfassbare Geschwindigkeit der Geschehnisse in den sozialen Medien ab. Das habe ich beim Schreiben des Romans live erlebt.

 

Wie sind die Figuren Mette und Jo entstanden und was macht die beiden aus?

 

Die Phase der Pubertät, in der wir uns extrem entwickeln und unsere Identität herausbilden, interessiert mich schon länger. Vor Ewigkeiten habe ich mal bei einem «Diary-Slam» vor Publikum aus alten Tagebüchern vorgelesen. Es war eine schöne und intime Veranstaltung, weil sich alle mit dem Ausnahmezustand der Pubertät identifizieren konnten.

In diesem Alter war ich selbst primär mit mir und dem Freundeskreis beschäftigt. Die Jugendlichen heute haben Zugang zur ganzen Welt. Es prasseln permanent die krassesten Infos auf sie ein. Mich interessiert, wie die Wahrnehmung von jungen Menschen durch das Aufwachsen mit dem Internet geprägt wird. Oft besteht dort wenig Möglichkeit zur kritischen Distanz, zur Unterscheidung zwischen Realität und Performance, zwischen Fakt und Fiktion. Durch Mette konnte ich die Zeit der Jugend nochmal erleben, aber unter ganz anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen.

Mette ist einerseits eine typische Teenagerin: unglaublich verletzlich, wach und offen. Sie möchte Dinge verstehen und sich beteiligen. Andererseits ist sie durch ihre Hochbegabung, das schwierige Elternhaus und die Suizid-Thematik recht ungewöhnlich.

Jo, das Gegenstück zu Mette, ist Ergebnis meiner Recherchearbeit in einem männlich weiß geprägten Verschwörungstheorie-Milieu. Der Ursprung von Theorien mit rechten Tendenzen hat viel mit Frauenhass zu tun – mit der Frustration, durch die Forderung nach Gleichberechtigung im Feminismus Einfluss und Macht zu verlieren. Mir ist wichtig zu zeigen, dass Jo ein intelligenter Mensch ist. Ich sehe eine Gefahr darin, Verschwörungsideolog*innen als dumm abzutun. Gerade in einflussreichen Positionen sind manipulative und frustrierte Menschen zu finden, die genau wissen, was sie tun. Die sollte man nicht unterschätzen.

 

Dein Roman ist ein Zeitstück der Generation Z – die Nachfolgegeneration der Millennials. In diesem Zusammenhang legst Du ein besonderes Augenmerk auf die Internet-Sprache. Wie hast Du dich damit vertraut gemacht?

 

Für mich ist es nicht möglich, den Ton zu hundert Prozent zu treffen, weil ich nicht Teil der Gen Z bin. Es war für mich, wie eine Fremdsprache zu lernen, die ich sehr mag. Ich habe mit jungen Menschen gesprochen, in den sozialen Medien recherchiert und so die Vokabeln gelernt. Die Generation geht mit Sprache sehr kreativ und voller Humor um. Nach einer gewissen Zeit hatte ich einen realen Ton im Kopf und habe dann mit etwas poetischer Freiheit daraus Mettes Sound entwickelt. Letztlich war es für mich nicht zentral, dass jedes Wort genauso von der Gen Z verwendet wird. In dieser sich extrem schnell entwickelnden Sprache ist ein Begriff von heute in einem Monat schon wieder out.

 

Im Marstall wird Dein Roman uraufgeführt. Dafür wurde der Roman «Tick Tack» für die Bühne bearbeitet. Wie fühlt sich das an?

 

Es ist eine riesige Freude für mich. Die Inszenierung ist ein komplett eigenes Kunstwerk. Für mich ist der Prozess mit der Veröffentlichung des Buches abgeschlossen. Ich mag, dass danach bei jedem*r Leser*in etwas Neues entsteht. Und ich bin dankbar, eine Interpretation meines Werkes im Theater sehen zu dürfen und an dem Prozess des Weiterdenkens teilhaben zu können. Besonders schön finde ich, dass die Generation auf der Bühne steht, um die es geht.

 

Gibt es abschließend etwas, dass Du dir für die Gen Z wünschst?

 

Die Welt durchlebt schon immer Krisen. Gen Z ist die erste Generation, die in so jungem Alter mit allen Krisen der Welt gleichzeitig konfrontiert wird und sich sofort damit auseinandersetzen muss. Das stelle ich mir besonders überfordernd vor, wenn man selbst noch auf der Suche ist. Deswegen wünsche ich ihnen, dass sie außerhalb dieser Informationsflut  Ruheinseln finden. Wir brauchen außerdem mehr Schutz vor dem Einfluss und Zugriff sozialer Medien, die dafür konzipiert sind, ihre User*innen abhängig zu machen und ihr Verhalten zu manipulieren. Die Elterngeneration ist überfordert und die Regierung reguliert diese riesigen Wirtschaftsunternehmen viel zu wenig. Die sozialen Medienplattformen profitieren von unseren Daten viel mehr als wir von ihnen. Wir werden zum Produkt und merken es gar nicht.


Die Fragen stellten Zoe Köppen und Maria Leitgab.