«Rasom nas bahato, nas ne podolaty» ‒ «Wir sind viele, und wir sind nicht zu bezwingen»

In ihrem Essay stellt die Übersetzerin Claudia Dathe den ukrainischen Autor Serhij Zhadan vor und gibt Einblick in die historischen Hintergründe des Krieges in der Ukraine. Von Serhij Zhadan stammt auch das Zitat auf dem aktuellen Banner am Residenztheater:

 

«WIR HABEN ALLE UNVERZICHTBAREN WÖRTER,
UM IN DEN ZEITEN DES KRIEGES ÜBER UNS ZU SPRECHEN.»*

 

Als im Jahr 1986 in Tschernobyl, oder wie es auf Ukrainisch heißt, Tschornobyl der vierte Reaktorblock des Kernkraftwerks explodierte, trat die Ukraine – damals noch als Teil der Sowjetunion – zum ersten Mal ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Bis zu Russlands Überfall am 24. Februar 2022 blieb Tschornobyl für die meisten hierzulande die bestimmende Assoziation mit der Ukraine. Das Land am Rand, wie man den Namen ins Deutsche übersetzen könnte, blieb für die meisten Menschen am Rand der eigenen Wahrnehmung. Jetzt stehen Präsident Selensky, die Soldaten, die Zivilbevölkerung und die bombardierten Städte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
 

Russlands Invasion trifft auf den erbitterten Widerstand der ukrainischen Armee und auch der Zivilbevölkerung, was nicht nur Putin, sondern auch die hiesige Öffentlichkeit erstaunt. Wirft man jedoch einen Blick in die jüngere Geschichte der Ukraine, ist dieser Widerstand keineswegs eine Überraschung. Nachdem das Land infolge der Implosion des Sowjetimperiums 1991 unabhängig geworden war, durchlebte es wie alle postsowjetischen Länder einen gewaltigen wirtschaftlichen Niedergang und die Erosion aller staatlichen Institutionen, das Leben der Menschen wurde zu einem Überlebenskampf, in dem nur das Recht des Stärkeren galt. Zu Beginn der 2000er Jahre setzte eine Stabilisierung ein, die nicht nur die wirtschaftliche Talfahrt stoppte, sondern in etlichen Teilen der Bevölkerung das Verlangen nach verlässlichen Institutionen und Rechtsstaatlichkeit aufkommen ließ. Aus diesem Verlangen erwuchs die Orange Revolution im Jahr 2004/20055, während der die Ukrainer in Massenprotesten die Annullierung der gefälschten Wahl von Viktor Janukowytsch erzwangen. In diesen Massenprotesten im Winter 2004, vor allem in Kyjiw, erlebten die Ukrainer zum ersten Mal, dass ein festes zivilgesellschaftliches Zusammenstehen echte politische Veränderungen bewirken kann: Ein dritter Urnengang wurde anberaumt, und mit Viktor Juschtschenko wurde ein Präsident gewählt, der die Ukraine demokratisieren und nach Europa führen wollte. Die Proteste waren friedlich, der Protestslogan lautete: «Rasom nas bahato, nas ne podolaty ‒ Wir sind viele, und wir sind nicht zu bezwingen». Leider wurde in Westeuropa der diesen Protesten zugrundeliegenden Demokratiewillen und das Streben nach Europa nicht gewürdigt. Die Ukraine erhielt keine europäische Perspektive, weder von Seiten der Europäischen Union noch von Seiten der NATO. Während die osteuropäischen Länder das Ansinnen des östlichen Nachbarn unterstützten, votierte Deutschland dagegen: Wirtschaftlich zu schwach entwickelt, kulturell anders verankert, das waren die Urteile, die seinerzeit hierzulande gefällt wurden.
 

Im Jahr 2013/2014 schickte sich der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowytsch an, mit der Europäischen Union ein Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, zog dieses Vorhaben aber auf den Druck Moskaus zurück. Daraufhin kam es in Kyjiw wiederum zu Massenkundgebungen, es entstand der Maidan – die Protestbewegung, die wochenlang winters auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kyjiw ausharrte und den Präsidenten schließlich zum Rücktritt zwang. Im Winter 2013/2014 erlebten die Ukrainer auf dem Maidan zum zweiten Mal, welche politikverändernde Macht der zivilgesellschaftliche Zusammenhalt entfalten kann. Im benachbarten Russland nahm man dieses Streben nach Demokratie und Erneuerung als Bedrohung des eigenen autoritären Kurses wahr – und steuerte dagegen: nicht mit Appellen oder diplomatischen Interventionen, sondern mit einem Hybridkrieg aus Propaganda und verdeckter militärischer Einflussnahme im Donbass und auf der Halbinsel Krim. Als die Krim Anfang März 2014 im Handstreich von Russland annektiert wurde, war der Präzedenzfall des Angriffs auf die Souveränität der Ukraine geschaffen, und der schwache Protest aus den westlichen Ländern konnte Putin in Sicherheit wiegen, dass sich ihm auch im Weiteren niemand entgegenstellen würde. 
 

Wen Putins grauenhafte Gewalt überrascht und die Einmütigkeit der Ukrainer erstaunt, der sollte sich eingestehen, dass er seit 2004 die Entwicklungen in der Ukraine und Russland bestenfalls oberflächlich wahrgenommen oder sogar ignoriert hat: Mit der Verteidigung ihres Landes kämpfen die Ukrainer nicht nur um den Erhalt ihrer Souveränität, sondern sie nehmen den dritten Anlauf, um vom westlichen Europa als das wahrgenommen zu werden, was sie sind: Ein Land, das mit freien Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit wesentliche Punkte eines liberalen Rechtsstaats erfüllt. Dass noch viel Arbeit zu leisten ist, etwa in der Korruptionsbekämpfung, soll nicht verschwiegen werden.
 

Zweimal haben die Ukrainer der Willkür im eigenen Land widerstanden, die Bilanz auf dem Maidan waren einhundert Tote. Bei der jetzigen Invasion des östlichen Nachbarn wird der Tribut für den Widerstand wesentlich höher ausfallen. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes am Rand nehmen lieber Dutzende zerbombte Städte, tausende Tote und hunderttausende Flüchtende in Kauf, als sich Putins Diktatur zu unterwerfen, die Deutschland so lange verharmlost hat.
 

Bislang ist es nicht gelungen, der hiesigen Öffentlichkeit die Entwicklungen in der Ukraine und ihre Abkehr von Russland klar zu vermitteln. Vielmehr führte das weitgehende Desinteresse zu einem vorschnellen Einschwenken auf Putins Narrative, allen voran die Beschwörung der russischen Opfer im Zweiten Weltkrieg.
 

Wer einen Blick auf die Karte der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wirft, dem wird schnell klar, dass nicht nur die russländischen Landesteile unter dem Angriff Hitlerdeutschlands gelitten haben, die Ukraine war ebenso in Mitleidenschaft gezogen und hatte genauso wie Russland Millionen Opfer zu beklagen. Es ist an der Zeit, dieses Narrativ zu korrigieren: Gelitten unter Hitlerdeutschland haben Russland, Belarus und die Ukraine gleichermaßen. Dreieinhalb Millionen ukrainische Zivilisten, so der amerikanische Historiker Timothy Snyder, verloren während der deutschen Besatzung von 1941 bis 1944 ihr Leben, weitere drei Millionen starben als Soldaten in der Roten Armee. Und denken wir auch daran, dass das größte Einzelmassaker an der jüdischen Bevölkerung im September 1941 in Kyjiw, in der Schlucht von Babyn Jar, verübt wurde.
 

Was wir derzeit erleben, ist ein Ermächtigungsmoment des letzten Imperiums in Europa: Putin will Russland in den Grenzen des alten Sowjetimperiums wiederherstellen, koste es, was es wolle. Was wäre das für ein Triumph für ihn – einhundert Jahre nach der Gründung der Sowjetunion 1922 das Imperium in den alten Grenzen neu zu errichten!
 

Wenn Putin die Ukraine in die Knie zwingt, würde nicht einfach das der Fläche nach größte europäische Land von der Karte verschwinden, es wäre auch das Ende des Selbstbestimmungsrechts der kleinen Völker, das nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Leitlinie der Außenpolitik wurde und von dem die Ukraine – anders als Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien – in Versailles unter anderem auch deshalb nicht profitieren konnte, weil sie an der Seite Deutschlands als Kriegsverlierer betrachtet und daher zu den Friedensverhandlungen nicht geladen war.
 

Im gegenwärtigen Moment sind die Aufmerksamkeit und die Hilfsbereitschaft für die Ukraine groß, aber es liegt in der Natur des Menschen, dass er sich anpasst und gewöhnt. Wir leben nicht im Zustand eines permanenten Alarmiertseins. Aber wir sollten uns der Kultur und der Gesellschaft der Ukraine künftig ausdauernder als bisher zuwenden, etwa mit Büchern von Yuri Andruchowytsch und Tanja Maljartschuk, mit Musik von Marianna Sadowska, mit den Kunstwerken von Nikita Kadan, Performances von Rozdilovi oder eben mit den Gedichten und Romanen von Serhij Zhadan.
 

Serhij Zhadan ist ein Autor, der die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in der Ukraine mit seinen Werken dokumentiert und begleitet. Er stammt aus Starobilsk, einer Kleinstadt im Gebiet Luhansk, das in den letzten acht Jahren unter der Kontrolle der von Moskau gesteuerten Separatisten stand. Die Umbruchjahre nach 1991 verbrachte Zhadan als Student in Charkiw, wo er seine ersten Gedichte veröffentlichte und der experimentellen Dichtergruppe «Der rote Leiterwagen» angehörte. Zhadan schafft in seinen Texten sperrige, eigenwillige Charaktere und bettet sie in postsowjetische Landschaften ein, denen seine poetische Sprache eine besondere Anschaulichkeit verleiht.
 

Serhij Zhadan ist nicht nur Autor, sondern auch Aktivist. Seit 2014 war er regelmäßig mit seiner Band in den Frontstädten im Osten des Landes unterwegs, hat Konzerte gegeben, Kulturprojekte iniitiert und Hilfstransporte organisiert.
 

Mit seinen Büchern Depeche Mode, Anarchy in the Ukr, Die Erfindung des Jazz im Donbass und Mesopotamien hat er die postsowjetische Wirklichkeit mit ihrem Zerfall, ihrem Überlebenskampf, mit ihren Oligarchen, Verlierern und schrägen Typen porträtiert und den Menschen eine Stimme gegeben, voller Sympathie, Ironie und Plastizität. Internat setzt sich mit dem Krieg im Donbass im Jahr 2014 auseinander und nimmt Sie mit in drei quälend lange Tage voller Chaos, Desorientierung und Gewalt.
 

Zhadan ist ein Aufsuchender, immer hat er sich an die sensiblen Orte seines Landes begeben und die Kraft der Sprache genutzt, ihre komplexe Wirklichkeit anderen näher zu bringen. Jetzt ist er in Charkiw, der Millionenstadt im Osten des Landes, die seit Tagen aus der Luft bombardiert und von schwerer Artillerie angegriffen wird. Seinen Fans und Lesern sendet er regelmäßig Botschaften über Instagram.
 

Claudia Dathe

 


Claudia Dathe (*1971) studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitete sie von 2009 bis 2020 als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen und zum europäischen Kulturaustausch am Slavischen Seminar der Universität Tübingen. Seit Mai 2021 koordiniert sie das Forschungsverbundprojekt «European Times» an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europauniversität Viadrina. Sie übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u.a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusez. Im Jahr 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusez für das Buch «Glückliche Fälle» mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband «Antenne» mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet.


* Serhij Zhadan: Antenne. Gedichte. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Suhrkamp Verlag Berlin, 2020.