VON GESELLSCHAFT DURCHDRUNGEN

 

Die französische Autorin und diesjährige Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux bezeichnet sich als «Ethnografin ihrer selbst». Sie blickt in ihrem Werk sozusagen als Fremde auf sich, blickt auf ihr ICH als etwas Fremdes, Fremdgewordenes. Im Blick auf das eigene Ich, in der autobiografischen Befragung der eigenen Person ist dieses Moment der Entfremdung, des Sich-selbst-fremd-Seins eine nicht seltene Erfahrung. In der Rückschau ist das eigene, jüngere Ich mit zunehmender Distanz mehr und mehr eine Fremde, eine andere. Man kennt dies beispielsweise aus der Betrachtung alter Fotos von sich selbst. Was einen aber von seinem Ich der Vergangenheit trennt, ist nicht nur die uneinholbar verstrichene Zeit, das Alter, sondern auch die Differenz an seither gelebter Erfahrung, die immer wieder vollzogenen Korrekturen am eigenen Selbstbild, die aufgegebenen Hoffnungen, erlebten Enttäuschungen, Irrtümer, Verwundungen. Das junge Ich von damals – auf dem Foto – lässt noch eine Potenz, eine Möglichkeit erahnen – und diese steht in manchmal vernichtender, manchmal überraschender Differenz verglichen mit der Gegenwart, dem Ich von heute.

 

Zur autobiografischen Selbst-Fremdheit im Werk Annie Ernaux‘, die immer wieder von konkreten privaten Fotografien und notierten Texten in Tagebüchern angestoßen wird, kommt jedoch noch ein entscheidendes Element hinzu. Ernaux erfährt sich selbst als Klassen-Flüchtige, also als eine, die ihren Klassen-Ort, die sozialen und ökonomischen Verhältnisse ihrer Herkunft verlassen hat. Sie wird 1940 in der Normandie geboren, ihre Eltern bewirtschaften eine kleine Kneipe mit daran angeschlossenem Laden. Man wundert sich über die Begabung der Tochter «zum Lernen» – wie es heißt. Zwar gelingt es der Schülerin einen Bildungsweg einzuschlagen, der sie ans Gymnasium und die Universität führt, aber nichts davon ist selbstverständlich. In keiner Weise ist sie mit dem notwendigen oder zumindest hilfreichen kulturellen Kapital ausgestattet; alles an dieser so anderen Welt, diesem sozial kaum durchlässigen Bildungssystem, ist ihr fremd und neu. Und je weiter sie sich in diese andere Welt eines allmählichen – sozusagen: Klassenaufstiegs begibt, desto fremder wird ihr die Welt der eigenen Herkunft. Unsicherheit verbindet sich mit jugendlicher Überheblichkeit im Blick zurück, der immer wieder auch zum Blick nach unten wird. Klassen-Flucht als Verrat an der eigenen Herkunft und zugleich die Scham, ihren Kommiliton*innen und dem gesamten Feld der Mittel- und Oberschicht und deren Habitus nie und nimmer entsprechen zu können, wegen dieses «feinen Unterschieds», den der Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt. Es ist vor allem dieses von Klassendifferenzen gespaltene, sich selbst fremd werdende, entfremdete Ich, das Annie Ernaux in ihrem Werk immer wieder befragt und mit ihren Ichs der Gegenwart ins Gespräch bringt oder konfrontiert. Es ist eine soziologisch geschulte oder informierte literarische Selbst-Analyse, die die von Klassismus, Chancenungleichheit und – nicht zuletzt – Sexismus geschlagenen Wunden schmerzlich offenlegt.

 

So auch in «Erinnerung eines Mädchens». In dieser Erzählung geht Ernaux an den Schmerzpunkt einer ganz bestimmten Erinnerung, eines Ereignisses aus dem Jahr 1958, das immer wieder in ihr Schreiben drängt, bis sie ihm schließlich ein ganzes Buch widmet. Denn die Verhältnisse sind nicht nur sozioökonomisch gefasst, sie sind nach Geschlechtern geteilt, patriarchalisch strukturiert – zumal 1958, zehn Jahre vor der sexuellen Revolution. Der Klassenwiderspruch wird von der patriarchalen Hierarchisierung der Geschlechter verdoppelt, erweitert oder um eine andere Dimension ergänzt, eine Dimension, die sich tief in die Körper einschreibt. In «Erinnerung eines Mädchens» blickt die fast 80-jährige Autorin auf ihr 18-jähriges Ich zurück, auf eine junge Frau, die noch so ganz im Kraftfeld der patriarchalen Geschlechterlogik steht, zwischen verklärten Liebesidealen, Selbst- und Fremd-Entwertung, Scham und männlicher Gewalt. Und sie, die Autorin, versucht all den bestimmenden Faktoren auf die Spur kommen, die in dieser jungen Frau wirkmächtig sind, die sie ihr so fremd erscheinen lassen und deren Erinnerung sie doch in sich trägt. Sie ist diese 18-Jährige, sie war sie und ist sie nicht, nicht mehr. Mit «Erinnerung eines Mädchens» hat Annie Ernaux kurz vor der #meToo-Bewegung ein beklemmendes und politisch relevantes literarisches Dokument vorgelegt, das vom Ende des Schweigens kündet. Es ist ein wichtiges Buch. Und als Autofiktion ist es eine biografische Erzählung, die in der literarischen Selbst-Befragung das eigene Ich nicht in eine geschlossene Geschichte gießt, sondern der Fraglichkeit preisgibt. Autofiktion bedeutet hier dreierlei: Einerseits die Erfahrung, dass ein abgeschlossenes, bruchloses, transparentes Selbst bloße Fiktion ist. Und Annie Ernaux möchte dieses Selbst gerade nicht zur Figur eines Romans – und sei es ein autobiografischer Lebensroman – stilisieren. Andererseits ist der Autorin bewusst: Jeder Versuch, die Brüche und Widersprüchlichkeiten des eigenen Ich aufzusuchen, ist auf die Mittel der Erzählung angewiesen, auf sprachliche Annäherung. Fiktion bedeutet hier aber nicht den Vorgang des Erfindens im Gegensatz zum vermeintlichen Tatsachenbericht, und auch nicht das Schließen von Erinnerungslücken durch fiktives – also erfundenes – Material. Fiktion im Sinne der Autofiktion ist vielmehr ein erzählerischer Vorgang, der seine eigenen Mittel offenlegt: den tastenden Akt des Erinnerns, die Leerstellen des Vergessens, die immer wieder wechselnden Perspektiven auf sich selbst, das Gefühl der Unzulänglichkeit des soeben erzählten Materials, der Impuls nochmals zu beginnen oder neu oder anders zu erzählen, und den Schmerz, diesen Akt des Erinnerns schließlich doch abschließend in eine Form bringen zu müssen – in etwas wie ein Buch… Und drittens schließlich: Autofiktion im Sinne Annie Eraux‘ hat es nicht bloß mit dem eigenen Ich zu tun. Im Gegenteil: Ernaux sucht die Brüche im eigenen Geworden-Sein auf und legt darin gesellschaftliche und politische Prozesse offen. Denn das eigene Ich ist durch und durch von Gesellschaft durchdrungen, in seinen Wunden, seinem Scheitern, seiner Selbstermächtigung und Befreiung.

 

Ewald Palmetshofer