Unsere Zeit

Simon Stones neuestes Theaterstück, «Unsere Zeit», entstand frei nach Motiven Ödön von Horváths. Was darf man sich darunter vorstellen?

 

Horváths Dramen und dessen Prosawerk im Blick habend, griff der international gefeierte australische Autor und Regisseur einzelne Erzählstränge und Figurenperspektiven aus Horváths Gesamtwerk auf und katapultierte diese im Zuge seines Schreibprozesses in unsere Gegenwart.

 

«Ich glaube, meine Figuren sind Menschen, mit denen Horváth sich heute beschäftigen würde. Ich versuche – obwohl das natürlich unmöglich ist – sozusagen Horváths Brille aufzusetzen und die Welt durch sie zu sehen und darüber nachzudenken, welche Phänomene ihn interessieren würden, weil er ein soziologischer oder anthropologischer Autor war. Es gibt viele Parallelen, die Figuren sind verwandt.» (Simon Stone)

 

Welche gesellschaftlich relevanten Themen würde Horváth – einer der genauesten Diagnostiker einer Gesellschaft, die am Abgrund steht und selbst alle Abgründe in sich trägt – also 2021 in Literatur gießen? Simon Stone greift unsere Gegenwart bestimmende Diskurse bzw. Debatten auf – von #MeToo über die identitätspolitischen Themen Race, Gender und Klasse. Dabei bedient er sich einer Poesie der Alltagssprache – ganz gemäß des Horváth’schen Diktums, dass man, «um einen heutigen Menschen realistisch schildern zu können, man ihn dementsprechend reden lassen muss».

 

Simon Stones Glücksuchende und Gestrandete, Auf- und Aussteiger*innen, Tag- und Albträumer*innen sind von Abstiegsängsten und Aufstiegshoffnungen getriebene Einzelkämpfer*innen, die sowohl sich als auch andere primär über den sozialen Status definieren.

«Horváth ist als Figur am Anfang des beschleunigten Kapitalismus, der großen Konzerne interessant, die reflektiert, was die Anonymität der Teilnahme an der kapitalistischen Welt bedeutet. Kapitalismus ist ein fest verwurzelter Teil der Horváth’schen Welt, und die Leute sprechen ständig von Geld, von ihrem Gehalt, ob sie sich ein Auto leisten können, ob sie sich leisten können, abends im Restaurant essen zu gehen. Gesprächsstoffe, die damals, als er die Stücke geschrieben hat, wahrscheinlich banal erschienen, wirken heutzutage wie die erste Mythologie, die davon erzählt, wie das materielle Leben zum Emblem der Seele wird.»
(Simon Stone)

 

Der Titel des Stücks «Unsere Zeit», der auf Horváths posthum erschienenen Roman «Ein Kind unserer Zeit», die Geschichte eines Soldaten, der vollgestopft ist mit Phrasen eines militanten Nationalismus, verweist, ist durchaus programmatisch: Die Handlung setzt mit der sogenannten «Flüchtlingskrise» im August 2015 ein und zieht sich über einen Zeitraum von sechs Jahren in unsere unmittelbare Gegenwart, denn

 

«die Parallelen zur Situation in den Dreißigern des 20. Jahrhunderts sind offensichtlich. Menschen, die früher zur Mittelschicht gehörten, sind plötzlich arm, sie fühlen sich kastriert – besonders die Männer, suchen Sündenböcke und glauben, in der Migration das zentrale Problem zu erkennen.» (Simon Stone)

 

«Unsere Zeit» ist eine theatrale Analyse unserer sozioökonomisch instabilen Gegenwart und thematisiert

 

«soziale Probleme, wie wir als Gemeinschaft überleben, wer wir in einer Gemeinschaft sind, und wie wir der Verantwortung, die wir ihr gegenüber haben oder nicht haben, Rechnung tragen.»
(Simon Stone)

 

Constanze Kargl