AUF DEM BOULEVARD DER DÄMMERUNG

Dramaturgin Almut Wagner zeichnet nach, wie Rainald Goetz in «Lapidarium» die politischen und persönlichen Abgründe des 21. Jahrhunderts seziert – mit radikaler Offenheit und überbordender Sprachkraft.

 

«Lapidarium» heißt die neueste Trilogie von Rainald Goetz. Nach «Krieg» und «Festung» hat der vielfach ausgezeichnete Ausnahmeautor, gefeiert für seine Weltbeobachtungen der Jetztzeit, erneut drei in Form und Inhalt unterschiedliche Werke unter eine Überschrift gestellt. Die Trilogie vereint die Stücke «Das Reich des Todes. Politische Theorie», «Baracke. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft» und schließlich, nach Gesellschafts- und Familienstück, das titelgebende «Ichstück», dessen Untertitel Goetz einer Schrift Immanuel Kants entlehnt: «Anthropologie in pragmatischer Hinsicht». Als Motto stellt er seinem Text voran: «liber scriptus proferetur». Zeit und Ort werden angegeben mit «Anfang Mai, Ende November. Im bayrischen Süden.»


Den Begriff «Lapidarium» muss vielleicht manche*r erst einmal nachschlagen: Er bedeutet eine Ansammlung von Steinskulpturen, wie sie zum Beispiel auf Friedhöfen zu finden ist, so auch auf dem historischen Münchner Südfriedhof. Dem Charakter einer Sammlung entsprechend ist das Goetz’sche «Lapidarium» eine wilde und wortgewaltige Mischung der Genres – Tagebuch, Drehbuch für ein nie realisiertes irrwitziges Filmprojekt des genialen Helmut Dietl, Selbstporträt des Autors, Gedicht und wie im Motto angedeutet: Requiem. Vollständig heißt das Zitat aus dem Hymnus «Dies irae – Tag des Zorns», der katholischen Totenmesse, auf Deutsch: «Ein beschriebenes Buch wird vorgebracht, in dem alles enthalten ist, nach dem die Welt beurteilt werden wird.» Rainald Goetz stellt sich damit selbst vor eine große Herausforderung. Er hält Rückschau auf vergangene Zeiten, teilt seine Jetztzeit-Erfahrungen mit uns, um sich dann metaphysischen Reflexionen, dem Übertritt in die Sphäre des Jenseits, zuzuwenden.


In einem Gespräch aus dem Jahr 2013 äußert er sich zu der Form der Trilogie: «Es sind die Grundformen des Sozialen, die sich in diesen sehr unterschiedlichen Formaten von Stücken abbilden. (…) So wird in jedem Format ein anderer Aspekt der Thematik, um die es in der jeweiligen Trilogie geht, darstellbar. Man kann das zu Sagende einfach weiter auffächern.» Was aber sagt Goetz in «Lapidarium»? Er spricht über die «Dunkelmaterie im Mensch des frühen 21. Jahrhundert.» Untersucht er in «Das Reich des Todes» das globale Versagen der Demokratie nach dem 11. September, indem er über die Folter in US-amerikanischen Lagern schreibt, bricht er in «Baracke» die Brutalität des NSU-Terrors auf die Ebene der Kleinfamilie herunter, um sich im «Lapidarium» zu fragen: Wie stellt man sich dem Schrecken der eigenen Endlichkeit?


Rainald Goetz liefert dazu überbordendes Material. Die von ihm gewünschte Uraufführungsregisseurin Elsa-Sophie Jach, Hausregisseurin am Residenztheater, spricht von einem lyrisch-poetischen Steinbruch, in dem die Theater-Steinmetz*innen ihre eigene Fassung herausmeißeln können. Unzählige reale, noch lebende oder bereits verstorbene Personen und Figuren aus der Literatur kommen in diesem «Lapidarium» vor. Gezählt sind es über 250. Während die meisten von ihnen als Referenzpunkte im Leben des Autors erwähnt werden, lässt Goetz andere als Figuren auftreten und legt ihnen seine Worte in den Mund. Darunter sind Josef Bierbichler, Helmut Dietl und Franz Xaver Kroetz. Dieser soll dazu verführt werden, in dem bereits erwähnten Dietl-Film eine Neuauflage des legendären Baby Schimmerlos zu geben. Und Rainald Goetz himself soll dazu überredet werden, am Drehbuch mitzuarbeiten. Ganz große Unterhaltung!
 

Die Schauplätze sind teilweise sehr konkret, Goetz erweist seiner bayrischen Heimat Reverenz. Heraufbeschworen werden unter anderem legendäre Lokalitäten aus dem Schwabing der Achtzigerjahre, genauso wie der Englische Garten und ein berühmter Steg am Starnberger See. (Natürlich kommt auch Berlin vor. Der Ku’damm, das Studio von Matthias Döpfner, der Dorotheenstädtische Friedhof u. a.)


Trotz dieses Figurenreichtums gibt es neben Rainald Goetz, dem Ich des «Ichstücks», nur eine andere zentrale Figur – und das ist der Tod. Goetz erinnert sich an langjährige Wegbegleiter wie den Intellektuellen Michael Rutschky, der ihn während des Medizinstudiums in die Welt des Schreibens einführte, an die Autorenkollegen Herbert Achternbusch und Wolfgang Herrndorf. Er holt sie, wenn schon nicht ins Leben, zumindest auf die Bühne zurück und bewahrt sie damit vor dem Vergessen. «Lapidarium» ist als persönliche Ars moriendi zu lesen: Es scheint, als würde sich der Autor auch auf das eigene Verschwinden vorbereiten. Franz Xaver Kroetz, dem Rainald Goetz sein Stück gewidmet hat, nennt es einen riesigen «Boulevard der Dämmerung». Poetischer und passender kann man es nicht sagen.


Almut Wagner

 

Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.