KARUSSELL DER LIEBE

Das Oktoberfest mit all seinen Fahrgeschäften, Ringelspielen, Bierzelten und Schnapsbuden ist selbst in Zeiten einer ökonomischen, politischen und damit einhergehenden sozialen Krise Anfang der 1930er-Jahre ein beliebter Ort des Amüsements. Auch die Büroangestellte Karoline sehnt sich nach einer willkommenen Ablenkung und versucht, ihrem Alltag für einen Moment zu entkommen. Ihr Verlobter Kasimir, ein entlassener Chauffeur, will sich aber partout nicht amüsieren. Im Laufe der kommenden Stunden wird das titelgebende Paar auf eine harte Probe gestellt: «Nehmen wir an, Sie lieben einen Mann. Und nehmen wir weiter an, dieser Mann wird nun arbeitslos. Dann lässt die Liebe nach, und zwar automatisch.» Karoline, die eigentlich nur ein Eis essen wollte, lässt Kasimir zurück, fährt mit der Achterbahn, lernt «bessere Herren» kennen und trägt in der Hoffnung auf einen daraus resultierenden sozialen Aufstieg sich selbst zu Markte. In prekären Verhältnissen ist die Liebe ein (Tausch-)Geschäft und «Zukunft eine Beziehungsfrage»: Am Ende der Nacht wird sich das Karussell weitergedreht haben und neue Beziehungskonstellationen ermöglichen: Karoline wird ihren Kasimir gegen Schürzinger eingetauscht haben – als Angestellter in der Kinderkonfektion, Abteilung Kindermäntel, immerhin nicht abgebaut – und Erna ihren Merkl Franz gegen den verschmähten Bräutigam Kasimir – als Arbeitsloser immerhin kein tuberkulosekranker Kleinkrimineller –, denn selbst die Liebe, die ihren Namen nicht verdient, muss man sich in diesen Zeiten leisten können.

In losen Szenenabfolgen taumeln die Figuren jenseits familiärer und ideologischer Bindungen verloren über die Wiesn: Angestellte, Arbeitslose, Abenteurer, Aufsteiger und Abgehängte. Im Milieu des Kleinbürgers, der – so der österreichische Schriftsteller Franz Werfel – «von Horváth weniger als Angehöriger einer Klasse als der dem Geiste widerstrebende, der schlechthin verstockte Mensch geschildert wird», sucht man mit fortschreitender Stunde Trost im Alkohol, blickt tief ins Glas und in (zwischen-)menschliche Abgründe. Der Literaturwissenschaftler Alfred Doppler beschrieb Horváths «Volksstücke» als «Stücke über das Volk, wie es sich selbst nicht sieht und nicht sehen will.»

Als «Kasimir und Karoline», neben «Geschichten aus dem Wiener Wald» Horváths berühmtestes und meistgespieltes Drama, 1932 in Leipzig uraufgeführt und eine Woche später in Berlin gespielt wurde, waren die Reaktionen gespalten und der Autor, der sein Werk missverstanden glaubte, enttäuscht. In einem Brief beklagte Ödön von Horváth, dass «fast die gesamte Presse schrieb, es wäre eine Satire auf München und das dortige Oktoberfest – ich muss es nicht betonen, dass dies eine völlige Verkennung meiner Absichten war, eine Verwechslung von Schauplatz und Inhalt.» Denn obwohl München dem ungarischen Dramatiker und Prosaautor immer als ein zentraler Bezugspunkt in seinem so kurzen wie unsteten Leben galt und er das Oktoberfest aus eigener Anschauung kannte, war es nicht seine Absicht gewesen, in «Kasimir und Karoline» Wirklichkeit abzubilden bzw. Kriterien des Realismus für die Bühne geltend zu machen.

Um etwaige Missverständnisse auf Seiten der Regie und auch seitens des Publikums in Zukunft zu verhindern, sah Horváth sich zu einem ungewöhnlichen Schritt gezwungen und veröffentlichte eine in mehreren Varianten vorliegende legendäre «Gebrauchsanweisung». In Punkt vier etwa wies er darauf hin, dass seine Stücke «selbstverständlich stilisiert gespielt werden müssen, Naturalismus und Realismus bringen sie um – denn dann werden es Milljöhbilder und keine Bilder, die den Kampf des Bewusstseins gegen das Unterbewusstsein zeigen.»

Auch Horváths Sprache ist in diesem Sinne zu verstehen: Obwohl sie dem süddeutschen Idiom abgelauscht ist und zwischen Umgangssprache und zum Zwecke des Disktinktionsgewinns ins Hochdeutsche geretteter Phraseologie changiert, ist es eine Kunstsprache, die eine Wirklichkeit bloß suggeriert. Der Akt des Sprechens selbst dient weniger der Reflexion oder dem Erkenntnisgewinn: Man redet aneinander vorbei, verschleiert die eigenen Interessen und Wünsche vor anderen und sich selbst – und dennoch kommen diese ans Tageslicht, denn es spricht unkontrolliert aus einem. Den Figuren gehört nichts, nicht einmal ihre Sprache. Und das, was nicht gesagt wird, ist ebenso wichtig, wie das, was gesagt wird. In den von Horváth als «Stille» notierten Pausen findet eine Zäsur statt, – ein Riss, der die Kausalität zwischen (sprachlicher) Aktion und Reaktion stört. Horváths Tagträumer und Nachtschattengewächse (miss-)kommunizieren in einem «Jargon der Uneigentlichkeit». Diese Überhöhung und Verdichtung einer Sprache, die sie pflegen und dennoch nicht beherrschen, ist es auch, die den Horváth’schen Figurenkosmos in eine immer wieder neu zu vermessende Gegenwart rückt. Horváth selbst lässt «Kasimir und Karoline» in «unserer Zeit» spielen. Die Sprache, die er seinen Figuren der 1930er-Jahre in den Mund gelegt hat, entwickelt auch heute einen entlarvenden Sog: Wir erkennen uns in seinen Figuren wie in einem Spiegelkabinett unserer Zeit wieder.


Constanze Kargl

 

Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.