KIPPHARDTS «BRUDER EICHMANN»

Vor genau sechzig Jahren, am 15. Dezember 1961, sprach das Jerusalemer Bezirksgericht das Urteil im Prozess gegen Adolf Eichmann, den ehemaligen Leiter des nationalsozialistischen «Referats für Judenangelegenheiten» und damit einem der Hauptverantwortlichen des organisierten Genozids. Das Gericht sah es nach der Vernehmung von rund hundert Zeug*innen und einer Prozessdauer von vier Monaten als erwiesen an, dass Eichmann an der Ermordung von etwa sechs Millionen Juden beteiligt war. Eichmanns Verteidigungsstrategie, dass er lediglich ein unbedeutender Befehlsempfänger und damit ein «kleines Rädchen» im Getriebe des NS-Vernichtungsapparats gewesen sei, war damit gescheitert. Das Urteil lautete: Tod durch den Strang. Bis zum heutigen Tag ist die Hinrichtung Adolf Eichmanns am 1. Juni 1962 in Ramla bei Tel Aviv das einzige auf israelischen Boden vollstreckte Todesurteil.

 

Der Prozess gegen Adolf Eichmann hatte in vielerlei Hinsicht Signalwirkung. International, weil über das Gerichtsverfahren weltweit berichtet wurde und damit sechzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Grauen in den Vernichtungslagern nachhaltig in das Bewusstsein einer großen Öffentlichkeit gelangte. National, weil für den damals noch jungen Staat Israel der Prozess auch nach innen eine enorme Bedeutung hatte. Erstmals konnten Überlebende der Shoa vor einer breiten Weltöffentlichkeit über ihr unvorstellbares Leid und das Grauen in den Lagern sprechen, ohne dass sie mit dem damals – selbst von ihren Landsleuten – häufig formulierten Vorwurf konfrontiert wurden, sie hätten nur auf Kosten anderer überlebt.

 

In Folge des Eichmann-Prozesses wurde schließlich auch die deutsche Schuldfrage und deren juristische Aufarbeitung in der Bundesrepublik neu diskutiert. Und das in einer Zeit, in der der Wille nach Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gering und die Forderung nach einem endgültigen Schlussstrich groß waren. Die ersten Frankfurter Auschwitzprozesse (1963‒1965) und der Majdanek-Prozess in Düsseldorf (1975‒1981) resultierten ebenso daraus wie die Tatsache, dass die bis dato ausgesparte NS-Zeit endlich zum Gegenstand des deutschen Schulunterrichts wurde.

 

Auch das Theater begann sich nun mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen. Rolf Hochhuths «Der Stellvertreter» (1963) machte den Anfang, es folgte Peter Weiss' «Die Ermittlung» (1965) und schließlich Heinar Kipphardts «Bruder Eichmann» (1983). Die Dramen sind zwar formal sehr unterschiedlich, jedoch eint sie, dass sie mit vorhandenem historischen Material umgingen: Damit war die neue Gattung des dokumentarischen Theaters geboren.

 

Kipphardt nutzte für seinen «Bruder Eichmann» die Protokolle der Verhöre des israelischen Geheimdienstes, die dieser im Vorfeld des Prozesses mit Eichmann über Monate hinweg führte. Eichmanns spätere Verteidigungsstrategie vor Gericht kommt in den Protokollen bereits deutlich zum Vorschein: Immer wieder wies er jede Form von persönlicher Verantwortung und damit Schuld kategorisch von sich und inszenierte sich als reinen Befehlsempfänger ohne jeden eigenen Handlungsspielraum. Hannah Arendt sprach in ihrem berühmten Prozessbericht «Eichmann in Jerusalem» (1963) von der «Banalität des Bösen».

Heinar Kipphardt nannte es die «Eichmann-Haltung». «Das Stück beschreibt, wie ein ziemlich durchschnittlicher junger Mann aus Solingen, aufgewachsen in Linz, Vertreter bei Vacuum-Oil, auf sehr ge­wöhnliche Weise zu der monströsen Figur Adolf Eichmann wird, die admi­nistrative Instanz im Genozid an den europäischen Juden, ein «Rädchenim Getriebe», wie er sich nennt, ein Funktionär des «Krieges gegen die Juden», durch Befehl und Eid gewissensgeschützt. Das Stück zeigt auch, wie in der Eichmann-Haltung die Soldatenhaltung und die funktionale Haltung des durchschnittlichen Bürgers überhaupt steckt, die Haltung, Gewissen sei an den Gesetzgeber oder an den Befehlsgeber delegiert. Genauer gesehen zeigt sich, dass die Eichmann-Haltung die gewöhnliche Haltung unserer heutigen Welt geworden ist, im Alltagsbereich wie im politischen Leben wie in der Wissenschaft, von den makabren Planspielen moderner Kriege, die von vornherein in Genozid-Größen denken, nicht zu reden. Deshalb heißt das Stück «Bruder Eichmann», so Kipphardt in einem Interview.

 

Die Uraufführung seines Stückes am 21. Januar 1983 am Residenztheater erlebte Kipphardt nicht mehr. Er starb nur wenige Wochen zuvor, am 18. November 1982. Damit konnte sich Kipphardt auch nicht mehr zu der heftigen Kontroverse verhalten, die nach der Premiere um «Bruder Eichmann» entbrannte. Kipphardt wurde von der Kritik sogar Geschichtsfälschung und Verharmlosung des Holocaust vorgeworfen. Hauptstreitpunkt waren die dem Stück eingeschriebenen Analogieszenen, in denen Kipphardt versuchte, die sogenannte Eichmann-Haltung auch in der Gegenwart der 1980er-Jahre aufzuzeigen.

 

Fast vierzig Jahre nach der Uraufführung haben sich Regisseur Sebastian Baumgarten, der Videokünstler Philipp Haupt und der Musiker Stefan Schneider Kipphardts Text in Form eines digitalen Projekts erneut vorgenommen. Ausgehend von der Uraufführung am Residenztheater unternehmen Sebastian Baumgarten und sein Team eine Relektüre von Kipphardts Text. Es ist auch der Versuch eines Erinnerns an einem Wendepunkt der Geschichte: dem Ende der Zeitzeugenschaft. Wie wichtig dieses Erinnern nach wie vor ist, zeigt sich daran, dass Wissen und Bewusstsein über die eigene Tätervergangenheit in Deutschland zusehends schwindet. Das zeigt sich auch daran, dass die Glaubwürdigkeit von Zeitzeug*innenberichten inzwischen sogar angezweifelt wird; daran, dass die Zahl antisemitischer Übergriffe europaweit von Jahr zu Jahr deutlich steigt und auch daran, dass Menschen in aller Öffentlichkeit und völlig unbehelligt einen Judenstern mit der Aufschrift «ungeimpft» oder «Dieselfahrer» tragen können, ohne dass ein Aufschrei durch die Gesellschaft ginge.

 

Michael Billenkamp