Ein Ausflug mit Folgen

 

«Gehen wir doch auf den Boulevard!»

 

Dieser lapidare Vorschlag, der im Stück in erster Linie ein Ablenkungsmanöver ist, verortet die «Affäre Rue de Lourcine» in einer Zeit, die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der der Pariser Präfekt Georges-Eugène Haussmann die Pariser Innenstadt radikal umgestaltete, und in einer Schicht, dem gehobenen Bürgertum, das auf den neuentstandenen Prachtstraßen seine guten Manieren und die Statussymbole des gesellschaftlichen Aufstiegs ausstellte.

 

In dieser geografischen und sozialen Verortung wird auch ein Begriff geboren, der 1867 – 10 Jahre nach der Uraufführung der «Affäre Rue de Lourcine» – erstmals verwendet wurde und heute ein ganzes Theatergenre bezeichnet: die Boulevardkomödie, die damals sowohl ästhetisch als auch soziologisch ein viel weiteres Spektrum umfasste als heute. Es meinte zum Beispiel genauso die Vaudevillekomödien von Labiche wie die Operetten von Jacques Offenbach.

 

Eugène Labiche, heute bekannt als einer der Begründer der Boulevardkomödie überhaupt, ist genauer gesagt Meister eines ganz eigenen Genres: dem «Vaudeville-Cauchemar», in dem er die Ängste seiner auf dem Boulevard flanierenden Mitbürger*innen in Worstcase-Szenarien grell ausmalt. In der «Rue de Lourcine» nimmt er gleichzeitig das Kriminaltheater seiner Zeit aufs Korn. Ein grauenhafter Mord an einer Kohlenträgerin ist geschehen – so liest man in der Zeitung. Ein Rentier (was übersetzt nicht unbedingt Rentner heißt, sondern damals Menschen bezeichnete, die von Kapitalerträgen leben) namens Oscar Lenglumé erfährt beiläufig am Frühstückstisch von der Meldung – und zwar an einem Tag, der schlechter nicht getroffen sein könnte. Denn der Familienvater war in der Nacht zuvor nicht nur heimlich feiern – Filmriss inklusive –, sondern hat auch versehentlich einen Saufkumpan mitgebracht, der droht, seine Eskapade auffliegen zu lassen und sich zudem bei näherer Betrachtung als vollkommen unangemessen für den gepflegten Lebensstil der Lenglumés erweist.

 

Als sich zu allem Übel auch noch immer mehr Beweisstücke des Zeitungsmords in der Wohnung auffinden, ist das Alptraumszenario komplett und Lenglumé hält es zunehmend für plausibel, selbst der gesuchte Gewaltverbrecher zu sein …

 

Der ungarische Regisseur András Dömötör hat sich an der Theaterpraxis zu Labiches Zeit orientiert, die mit tagesaktuellen Bezügen und Verweisen auf populäre Erzählformen spielte, und aktualisiert einzelne Motive des Stücks. Lenglumé bekommt zum Geburtstag keinen Tabakstopf, sondern einen Grill und beschäftigt keinen faulen Diener, sondern eine osteuropäische Nanny. Die eigentliche Handlung hat hingegen nichts an Aktualität verloren, so Dömötör: «Der Kern des Verbrechens im Stück – dass jemand einem Mord zum Opfer fällt – kann man auch so verstehen, dass jemand zum Opfer einer Gesellschaft wird. Es ist jemand, der tatsächlich verschwinden kann, weil sie – in diesem Fall das Kohlenmädchen – für die Gesellschaft nicht wirklich existiert. Ich glaube, dieses Problem ist heute genau dasselbe. Und die wachsenden Städte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Industrialisierung entstanden sind, haben diese Form der Gesellschaft ermöglicht, weil plötzlich sehr reiche und sehr arme Menschen begannen, denselben engen Lebensraum zu teilen.»

 

Für alle bis auf die Hauskatze, das kann man sagen, ohne zu spoilern, stellt sich der Alptraum dieses Tages, als eben das heraus, was er ist: ein Traum. Als Zuschauer*innen wissen wir von Anfang an, dass die Zeitung von vorvorgestern ist und können beruhigt und mit Vergnügen beobachten, wie Lenglumé sich in einer Lawine von Ausreden verstrickt, verräterische Gegenstände zunehmend akrobatisch versteckt werden und bei dem Ganzen höchstens der familiäre Hausfrieden auf dem Spiel steht. Wobei wir beim nächsten Thema wären, bei dem sich in den letzten 165 zwar ein paar Vorzeichen, aber im Kern nicht viel verändert hat.

 

Katrin Michaels