DAS LINKE INTELLEKTUELLE GEWISSEN DER USA

 

Mit der Uraufführung von «Engel in Amerika» im Jahr 1991 in San Francisco wurde der New Yorker Dramatiker Tony Kushner schlagartig berühmt, schrieb sich mit seiner «Gay Fantasia on National Themes» in die erste Liga der US-amerikanischen Dramatiker*innen ein und wurde dafür mit zahlreichen Preisen, unter anderem dem Pulitzerpreis, geadelt. In einem Atemzug wurde er mit Eugene O’Neill, Tennessee Williams, Edward Albee und immer wieder insbesondere mit Arthur Miller genannt. Denn «Engel in Amerika» gilt wie dessen moderner Klassiker «Tod eines Handlungsreisenden» als luzider Abgesang auf das Ende der amerikanischen Vorrangstellung in der Welt, ist in den USA zur Schullektüre avanciert und wird heute landauf, landab von professionellen Ensembles und Amateurgruppen gespielt. Kushner hatte mit seinem zweiteiligen Theaterepos – Teil 1: «Die Jahrhundertwende naht», Teil 2: «Perestroika» – genau die Sorgen eingefangen, die die Menschen umtrieben, und der Stimmung in der zweiten Regierungsperiode Ronald Reagans 1984 bis 1989 ein dramatisches Denkmal gesetzt. Durch die Gesellschaft ging ein Riss: Die einen erfreuten sich ihrer neuen wirtschaftlichen Prosperität und eines vor Kraft strotzenden Präsidenten, der das Vietnamtrauma mit strahlendem Lächeln vergessen machte und den Antikommunismus pries. Die anderen, die nicht dem republikanischen Ideal entsprachen, was wirtschaftliche Potenz, religiöse oder sexuelle Orientierung, Abstammung oder gar politische Haltung anging, vermissten schmerzlich die Offenheit des vorangegangenen linken Hoffnungsjahrzehnts und fühlten sich ausgegrenzt. Genau von diesen Verwerfungen erzählte nun Kushner mit überbordender Fantasie, Humor und ungestümem Aufklärungswillen. Und das vor dem Hintergrund der sich wie eine Seuche ausbreitenden Krankheit Aids, die vom Präsidenten zunächst ignoriert wurde, weil sie zumeist homosexuelle Männer betraf. Die Theaterzuschauer*innen spürten damals: Hier wandte sich ein Künstler an sein Publikum, der eine politische Botschaft hatte, einer, der aus einer existenziellen Bedrängnis heraus schrieb. Heute noch gilt Kushner als das linke intellektuelle Gewissen der USA und wird bisweilen auch «Saint Tony» genannt.

«Man heilt eine Seuche, eine nationale Katastrophe (…) ausschließlich mit selbstlosem Handeln und Helfen.» Simon Stone

Kushner ist kein Pessimist oder ein Prophet der Apokalypse. Er unterstreicht in seinen Stücken vielmehr, dass sich die Welt stets weiterentwickelt. Darauf weist zum Beispiel der Reiseagent Mr. Lies in «Engel in Amerika» die verzweifelte Harper hin: «The world always spins forward.» Insbesondere mit dem zweiten Teil «Perestroika» formuliert er einen – wenn auch skeptischen – Optimismus: Leiden die Menschen, dann sind sie auch gezwungen, sich zu verändern. Es sei diese Veränderungsfähigkeit, die eine individuelle und gesellschaftliche Heilung und Erlösung ermöglicht.

 

Kushner feiert schließlich mit dem Epilog, in dem Prior, Hannah, Belize und Louis sich in ihrer bunt zusammengewürfelten Gemeinschaft aufmachen, die Welt zu retten, das gestaltende Subjekt und verweist dabei expressis verbis auf Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung».

 

Auch in Europa stand «Engel in Amerika» Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre auf den Spielplänen; danach wurde das Stück aber selten oder gar nicht mehr aufgeführt, obwohl eine sechsteilige HBO-Serie 2010 mit einem Starensemble (Al Pacino, Meryl Streep, Emma Thompson) als künstlerischer Erfolg galt. Da anders als im US-amerikanischen Theater der Autor bei Film und Fernsehen nicht das letzte Wort hat, hatte sich Kushner trotz zahlreicher Anfragen lange Zeit vom Film- und Fernsehgeschäft ferngehalten. Für Steven Spielberg allerdings machte er eine Ausnahme: Für ihn schrieb er die Drehbücher «München», «Lincoln» und zuletzt «West Side Story».

 

Während der letzten zwanzig Jahre hat Tony Kushner immer wieder an seinem erfolgreichsten Stück gearbeitet, vor allem der zweite Teil hat ihm lange Zeit keine Ruhe gelassen; die Aufführung, die 2015 am Theater Basel erarbeitet wurde, folgt erstmalig im deutschsprachigen Raum seiner überarbeiteten Fassung von 2013 und ist nun endlich auch am Residenztheater zu sehen.

 

Almut Wagner

 

Die ungekürzte Version dieses Textes finden Sie im Programmheft zu «Engel in Amerika», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als Onlineversion zum Download hier.