HANNO BUDDENBROOK: DIE LETZTE GENERATION

 

Der Verfall der Familie Buddenbrook als exemplarischer Umbruch festgefahrener gesellschaftlicher Narrative. Dramaturg Ilja Mirsky über Bastian Krafts Bearbeitung «Buddenbrooks» für das Münchner Residenztheater. Im digitalen Programmheft finden Sie darüber hinaus den Text «BUDDENBROOKS» IN MÜNCHEN. SCHREIBORTE UND SCHAUPLÄTZE von Dr. Dirk Heißerer in voller Länge. HIER geht es zum kostenlosen Download.

 

«Das Buch war an jener Stelle aufgeschlagen, wo, in den Handschriften mehrerer seiner Vorfahren und zuletzt in der seines Vaters, der ganze Stammbaum der Buddenbrooks mit Klammern und Rubriken in übersichtlichen Daten geordnet war. Mit einem Bein auf dem Schreibsessel knieend, das weich gewellte hellbraune Haar in die flache Hand gestützt, musterte Hanno das Manuskript, ein wenig von der Seite, mit dem matt-kritischen und ein bisschen verächtlichen Ernste einer vollkommenen Gleichgültigkeit und ließ seine freie Hand mit Mamas Federhalter spielen, der halb aus Gold und halb aus Ebenholz bestand. Seine Augen wanderten über all diese männlichen und weiblichen Namen hin, die hier unterund nebeneinander standen, zum Teile in altmodisch verschnörkelter Schrift mit weit ausladenden Schleifen, in gelblich verblasster oder stark aufgetragener schwarzer Tinte, an der Reste von Goldstreusand klebten ... Er las auch, ganz zuletzt, in Papas winziger, geschwind über das Papier eilender Schrift, unter denen seiner Eltern, seinen eigenen Namen – Justus, Johann, Kaspar, geb. d. 15. April 1861 – was ihm einigen Spaß machte, richtete sich dann ein wenig auf, nahm mit nachlässigen Bewegungen Lineal und Feder zur Hand, legte das Lineal unter seinen Namen, ließ seine Augen noch einmal über das ganze genealogische Gewimmel hingleiten: und hierauf, mit stiller Miene und gedankenloser Sorgfalt, mechanisch und verträumt, zog er mit der Goldfeder einen schönen, sauberen Doppelstrich quer über das ganze Blatt hinüber, die obere Linie ein wenig stärker als die untere, so, wie er jede Seite seines Rechenheftes verzieren musste …»
Thomas Mann, «Buddenbrooks. Verfall einer Familie»

 

Ursprünglich beabsichtigte der junge Thomas Mann lediglich eine Novelle über Hanno Buddenbrook zu schreiben. Zwischen dem Autor und dem jüngsten Familienmitglied bestehen einige biografische Parallelen: beide lieben die Musik, verachten die Schule und haben Schwierigkeiten die erforderlichen Leistungen zu erbringen, um in die nächste Stufe überführt zu werden. Beide verbringen die Sommerferien gerne in Travemünde an der Ostsee. Der Autor selbst schreibt über seinen Debütroman:


«Während ich mich eigentlich nur für die Geschichte des sensitiven Spätlings Hanno und allenfalls für die des Thomas Buddenbrook interessiert hatte, nahm all das, was ich nur als Vorgeschichte behandeln zu können geglaubt hatte, sehr selbstständige, sehr eigenberechtigte Gestalt an.»
Thomas Mann


In Bastian Krafts Bearbeitung für das Münchner Residenztheater nimmt Hanno die zentrale Rolle ein, um über mehrere Generationen hinweg zu erzählen, zu kommentieren und zu begreifen, wie äußere und insbesondere auch innere  Umstände die Familie Buddenbrook Stück für Stück in den Verfall gleiten lassen.


«Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt vollends.»
Otto von Bismarck


Verstehen wir uns besser, wenn wir die Menschen verstehen, die uns vorangingen? Bastian Kraft hinterfragt in seiner Inszenierung der nobelpreisgekrönten Buddenbrooks die Verflechtungen von familiärer Prägung, ökonomischem Druck und bröckelnden Privilegien in Bezug auf die jüngste Generation der hanseatischen Kaufmannsfamilie. Der vorbestimmte Beruf, die Übernahme der Firma «Buddenbrooks» und die damit einhergehende Notwendigkeit sich in eine vordefinierte und festgeschriebene Laufbahn zu fügen, widerstreben der Natur des jüngsten Familienmitglieds, der in Thomas Manns Roman für die vierte Generation steht. Die literarischen Bezüge zu Thomas Manns eigener Biografie lassen sich indes nicht nur zu dem jungen Künstler Hanno, sondern auch den Brüdern Thomas und Christian Buddenbrook finden. Abgrenzung und ökonomisches Denken statt zwischenmenschliche Empathie bestimmen das Beziehungsverhältnis der männlichen Figuren, sowohl zwischen Vater und Sohn als auch zwischen den Brüdern Thomas und Christian:


THOMAS BUDDENBROOK ZU SEINEM BRUDER CHRISTIAN
«Ich bin geworden wie ich bin, weil ich nicht werden wollte wie du.»

 

Christians Entwicklung zum décadent und Thomas’ Dasein als Haltungs- und Leistungsethiker stehen sinnbildlich für ein Auseinanderfallen der starren Lebensentwürfe innerhalb der familiären Strukturen. Bastian Kraft erschafft in seiner Inszenierung durch eine Verwebung von bildlicher- und musikalischer Welt einen multimedialen buddenbrookschen Kosmos, mit dem Familienporträt als zentralen Bestandteil. So besitzt auch Hannos Puppentheater symbolischen Charakter für die vorherrschende Diskrepanz zwischen Schein und Sein im Hause Buddenbrook. Das Haus wird zur Kulisse, die Familienmitglieder zu Schauspielenden und Hanno zur letzten Generation, die in diesem theatralen Kosmos gefangen ist.

 

Mit Hanno geht nicht nur die buddenbrooksche Familiengeschichte zu Ende, was symbolisch dadurch verdeutlicht wird, dass er selbst einen Strich unter seinen Namen in der Familienchronik zieht, es beginnt viel mehr ein Umbruch, ein Aufbruch, der sowohl familiäre als auch gesellschaftshistorische, tradierte Narrative in ihren Grundsätzen hinterfragt.


Das Programmheft zu «Buddenbrooks» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.