ANTIGONES AKT

EIN ORIGINALBEITRAG VON SLAVOJ ŽIŽEK

Aus dem Englischen von Frank Born.

 

Nach der üblichen Definition ist eine Parallaxe die sichtbare Verschiebung eines Gegenstands (die Verlagerung seiner Position vor einem Hintergrund) durch eine Veränderung der Position, von der aus man den Gegenstand beobachtet. Aus philosophischer Sicht muss man natürlich hinzufügen, dass die beobachtete Differenz nicht einfach nur «subjektiv» ist, weil dasselbe Objekt «da draußen» aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Vielmehr sind Subjekt und Objekt «in sich vermittelt», wie Hegel gesagt hätte, und deshalb spiegelt eine «epistemologische» Verschiebung des subjektiven Standpunkts immer eine «ontologische» Verschiebung im Objekt selbst wider.


Was hat dies nun mit «Antigone» zu tun? Warum lautet der Untertitel von Alenka Zupancics Buch über Antigone «Antigones Parallaxe»? In den 1960er- und 1970er-Jahren konnte man erotische Postkarten kaufen, auf denen Frauen im Bikini oder auch vollständig bekleidet abgebildet waren; wenn man die Karte jedoch leicht drehte oder aus einer etwas anderen Perspektive betrachtete, verschwand die Bekleidung auf magische Weise und man konnte die Frau nackt sehen. Mateja Koležniks Bearbeitung ihrer Fassung von «Antigone» macht etwas Ähnliches: Im ersten Akt sehen wir die offizielle Figur der Antigone, der zweite Akt konfrontiert uns dann jedoch schonungslos mit ihrer entsetzlichen Kehrseite. Man muss nicht allzu tief schürfen, um diese Kehrseite zu finden – vom Standpunkt der Eumonie (der guten gesellschaftlichen Ordnung) ist Antigone eindeutig dämonisch / unheimlich. Ihre trotzige Tat drückt eine Haltung des maßlosen und exzessiven Beharrens aus, die die «schöne Ordnung» der Stadt stört; ihre bedingungslose Ethik verletzt die Harmonie der Polis und ist als solche «jenseits der Grenze des Menschlichen». Die Ironie dabei ist, dass Antigone sich auf der einen Seite als Hüterin der uralten Gesetze geriert, die der menschlichen Ordnung zugrunde liegen, ihr launisches und rücksichtsloses Verhalten aber andererseits eine Abscheulichkeit darstellt – sie hat zweifellos etwas Kaltes und Monströses an sich, was besonders durch den Kontrast zu ihrer warmherzig-menschlichen Schwester Ismene zum Ausdruck kommt. Um die Haltung zu begreifen, die Antigone dazu gebracht hat, Polyneikes zu bestatten, sollten wir einen Schritt über die viel zu oft zitierten Verse über die ungeschriebenen Gesetze hinausgehen und uns eine ihrer späteren Reden ansehen, in der sie genau benennt, was sie mit dem Gesetz meint, dem sie nicht gehorchen kann:

«Denn wären mir Kinder, die ich etwa geboren hätte, oder der Gatte gestorben und verwest, hätte ich nie der Bürgerschaft zum Trotz diese Tat auf mich genommen. Und welchem Richtmaß folge ich, wenn ich so spreche? Wäre mein Gatte gestorben, hätte ich einen anderen gewonnen, auch ein Kind von einem anderen Mann, wenn ich das meine verlor; doch da der Hades Mutter und Vater birgt, erwächst mir nimmermehr ein Bruder. Auf dies Gesetz berief ich mich, als ich dich ehrte.»

Die Zeilen sorgten für einen jahrhundertelangen Skandal und viele Übersetzer behaupteten, es müsse sich um eine spätere Hinzufügung handeln. Selbst die Übersetzung des ersten Satzes variiert. Einige drehen seine Bedeutung sogar vollkommen um, wie die folgende:

«Ob als Mutter von Kindern oder als Gattin, ich hätte immer diesen Kampf aufgenommen und mich gegen die Gesetze der Stadt gewendet.»

Dann gibt es Übersetzungen, in denen die brutale Erwähnung verwesender Leichen gestrichen wurde und Antigone lediglich konstatiert, dass sie für einen Gatten oder ein Kind niemals die öffentlichen Gesetze brechen würde. Dann gibt es die oben zitierte korrekte Übersetzung,die zwar von Verwesung spricht, aber nur als Tatsache, nicht als etwas, das Antigone subjektiv annimmt. Hier muss man David Feldshuhs Übersetzung nennen, die Antigones subjektive Haltung vollständig wiedergibt – sie entspricht zwar nicht dem Original, aber man kann sagen, dass sie in gewisser Weise besser als das Original ist, weil sie dessen verdrängter Botschaft treuer ist:

«Kreons Gesetz / würde ich mich beugen, wenn / ein Gatte oder Sohn gestorben wäre. Ich ließe ihre Leichen / im dampfenden Staub verrotten, unbegraben und allein.»

Wie Alenka Zupancic in ihrer bahnbrechenden Untersuchung zu «Antigone» bemerkt hat, ist dies nicht nur eine Äußerung der Tatsache, dass ein unbegrabener Leichnam im Freien verrottet, sondern der Ausdruck ihrer aktiven Haltung dazu – sie würde die Leiche verrotten lassen. An diesem Passus wird klar, dass Antigone alles andere tut als nur das allgemeine, ungeschriebene Urgesetz der Achtung vor den Toten auf ihren Bruder anzuwenden. Darauf beruht ja die vorherrschende Lesart des Stückes: Antigone wendet eine allgemeine Regel an, die tiefer geht als alle sozialen und politischen Vorschriften. (Obwohl diese Regel angeblich keine Ausnahme zulässt, schwanken ihre Befürworter üblicherweise doch, wenn man sie mit einem Fall des ex-trem Bösen konfrontiert: Sollte auch Hitler ein ordentliches Begräbnis bekommen?) Judith Butler versucht hier, die Situation zu retten, indem sie geschickt darauf hinweist, dass der Bezug auf einen Bruder, der nicht ersetzt werden kann, zwiespältig ist: Ödipus selbst ist ihr Vater, aber auch ihr Bruder (sie haben dieselbe Mutter). Ich glaube aber nicht, dass wir aus dieser Öffnung eine neue Universalität des Respekts für alle, die am Rande stehen und von der öffentlichen Ordnung der Gemeinschaft ausgeschlossen sind, ableiten können. Eine andere Möglichkeit, die Situation zu retten, ist zu behaupten, dass jeder Mensch, der stirbt, für einen oder mehrere andere eine Ausnahmerolle innehat, wie Antigone sie definiert: Selbst bei Hitler muss es irgendjemanden gegeben haben, für den er unersetzbar war.


Eine weitere Möglichkeit, Antigone zu zähmen, besteht darin, die Tatsache zu übergehen, dass Polyneikes ein Verräter an seinem Volk ist. Das Jenin Freedom Theatre, ein unabhängiges Theater aus Dschenin im palästinensischen Westjordanland, führte vor einigen Jahren eine zeitgenössische Version des Stücks auf. Es stand unter der Prämisse, dass Antigone die Tochter einer palästinensischen Großfamilie ist und ihr Bruder im antiisraelischen Widerstand kämpft, wobei er von israelischen Soldaten getötet wird; die israelische Besatzungsbehörde verbietet seine Bestattung und Antigone setzt sich über das Verbot hinweg. Ich mischte mich in die Diskussion über diese Inszenierung ein und wies darauf hin, dass die Parallele falsch und irreführend sei. «Antigone» bringt einen Familienkonflikt zur Aufführung und Polyneikes greift Theben mit einer fremden Invasionsmacht an. Folglich wäre im besetzten Palästina von heute Kreon nicht das israelische Staatsoberhaupt, sondern das Oberhaupt von Antigones Familie – es müsste so sein, dass Polyneikes mit den israelischen Besatzern kollaboriert hat und von seiner eigenen Familie als Verräter verstoßen und umgebracht wird, und Antigone will ihn gegen die Wünsche ihrer Familie ordentlich bestatten.


Eine solche Lesart schafft es jedoch nicht, dem Paradox zu entgehen: Antigone muss sich bewusst gewesen sein, dass für hunderte (wenn nicht mehr) Kämpfer, die in der Schlacht um Theben gefallen sind, dasselbe gilt wie für Polyneikes. Dazu ist ihre Argumentation auch recht merkwürdig: Wenn ihr Mann oder ihr Kind sterben würden, würde sie sie verrotten lassen, nur weil sie sie ersetzen könnte. Warum sollte die Achtung vor den Toten nur für die bedingungslos gelten, die nicht ersetzt werden können? Ist der von ihr angedeutete Prozess der Ersetzung (sie kann einen neuen Mann finden, ein neues Kind großziehen) nicht eine seltsame Missachtung der Einzigartigkeit jeder Person?


Warum sollte ein neuer Ehemann einen anderen ersetzen können, den sie in seiner Singularität liebt? Kathrin H. Rosenfield hat dargelegt, dass Antigones Ausnahme in ihrer einzigartigen Familiensituation begründet liegt: Die Bevorzugung ihres Bruders ergibt nur vor dem Hintergrund all der Missgeschicke, die Ödipus’ Familie widerfahren sind, einen Sinn. Ihre Tat ist keineswegs einfach nur ein ethischer Akt, der die äußerste Hingabe an die eigene Familie zum Ausdruck bringt, vielmehr ist sie durchdrungen von obskuren libidinösen Besetzungen und Leidenschaften. Nur auf diese Weise lässt sich die seltsam mechanische Argumentation erklären, mit der sie ihre Ausnahme rechtfertigt (der Bruder kann nicht ersetzt werden): Ihre Argumentationsweise ist die oberflächliche Maske einer tieferen Leidenschaft, die natürlich den Inzest betrifft. In «Ödipus auf Kolonos» erklärt Ödipus sich für unschuldig am Tod seines Vaters, weil die Person, die er (in Notwehr) getötet hat, ein völlig Fremder für ihn war. Weder er noch sein (biologischer) Vater wussten, dass sie Vater und Sohn waren, denn der einzige Vater, den Ödipus kannte und der für ihn eine väterliche Autorität verkörperte, war sein Adoptivvater. Er verwendet daher, so Alenka Zupancic in «Let Them Rot: Antigone’s Parallax», «ein Argument, das eines gewieften Anwalts würdig wäre, der sich an die Geschworenen wendet:

«Antworte mir auf eine kurze Frage nur! / Wenn dich gerechten Menschen auf der Stelle hier / Ein Zweiter anfällt mörderisch, – nun, fragst du lang; / ‹Ob’s etwa nicht dein Vater?› oder wehrst du dich?»

Das gleiche Argument lässt sich natürlich auch auf den Inzest anwenden: Hast du die Angewohnheit, eine Frau, bevor du mit ihr schläfst, zu fragen, ob sie eventuell deine Mutter sein könnte? Die komische Wirkung dieser Erwiderung, mit der Ödipus die Herzen der Athener erobert, darf uns nicht von der Frage ablenken, auf die sie eigentlich abzielt: Was ist ein Vater? Woran erkennt man einen Vater? Und bleibt jemand, den ich nicht als meinen Vater erkennen kann (und der seinerseits ebenfalls außerstande ist, mich zu erkennen), dennoch ein Vater?»

Die sogenannten «Primitiven» wussten genau, dass die Antwort «Nein» lautet: Wenn sie behaupteten, von einem heiligen Tier abzustammen (einem einheimischen Vogel, Fisch oder ähnlichem), war ihnen klar, dass «Vater» sich dabei auf die symbolische Autorität bezog und eine geschlechtliche Befruchtung (die in keinerlei Zusammenhang mit dieser Autorität stand) notwendig war, um wirklich ein Kind zu zeugen. Mit seinem realen Inzest, dem die symbolische Dimension fehlt, konfrontiert Ödipus uns mit einer Kluft und bringt einen Fluch über seine Familie.

 

Es bleibt also dabei, dass Antigone etwas sehr Einzigartiges tut. Ihre allgemeine Regel lautet: «Lasst die Leichen verrotten» und sie hält diese Regel mit Ausnahme ihres besonderen Falles vollkommen ein. Antigones Haltung ist somit unvereinbar mit Projekten einer neuen Weltethik, die zum Ziel haben, die ganze Menschheit jenseits aller partikularen Weltanschauungen auf der Basis einiger weniger Grund-axiome zu vereinen: Tötet nicht, achtet die Toten, haltet euch an die Goldene Regel (was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu) – und so weiter. Das am weitesten entwickelte Projekt in dieser Richtung ist das «Projekt Weltethos», das auf den Schweizer Theologen Hans Küng zurückgeht:

«Damit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Nationen konstruktiv zusammenleben können, sind gemeinsame Grundwerte, die uns alle verbinden, notwendig. Dies gilt sowohl für kleinere Familienstrukturen als auch für Schulen, Unternehmen und die Gesellschaft als Ganzes. Verbindende Werte und Normen – unabhängig von Kultur, Religion und Nationalität – werden im Zeitalter des Internets, der globalen Politik und Wirtschaft sowie der zunehmend multikulturellen Gesellschaften immer wichtiger.»

Unter den großen Übersetzungen von «Antigone» wird die von Friedrich Hölderlin zu Recht als einzigartig gepriesen, und man kann nicht umhin zu bemerken, dass Antigones Ausnahme (die Bereitschaft, ihren Bruder ordnungsgemäß zu bestatten) im Lichte eines spezifischen Merkmals der späten Dichtung Hölderlins gelesen werden kann: Statt zuerst einen Zustand zu beschreiben und dann die Ausnahme zu nennen («aber»), fangen seine Sätze oft direkt mit «aber» an, ohne anzuzeigen, was denn der «normale» Zustand ist, der durch die Ausnahme gestört wird. So lauten etwa die berühmten Zeilen aus der Hymne «Andenken»: «Was bleibet aber, stiften die Dichter.» Die übliche Lesart ist natürlich, dass die Dichter nach einem Ereignis imstande sind, die Situation von einem reifen Standpunkt aus wahrzunehmen, das heißt, aus sicherer Entfernung, aus der die historische Bedeutung der Ereignisse deutlich wird. Aber was wäre, wenn es vor dem «aber» gar nichts gäbe bis auf ein namenloses Chaos und eine Welt (von einem Dichter ersonnen) als ein «aber» entstünde, als ein Akt der Störung einer chaotischen Leere? Was, wenn am Anfang ein «aber» war? Sollten wir Hölderlins Zeilen vielleicht wörtlich verstehen? «Was bleibet aber, stiften die Dichter.» – die Dichter stiften eine «Strophe», den Teil eines Gedichts, der «bleibet» – nach was? Nach der «Katastrophe» des vorherigen Chaos.

 

In diesem Sinne ist Antigones Entscheidung (für den Bruder) ein ethischer Urakt: Sie stört kein vorhergehendes allgemeines ethisches Gesetz, sondern unterbricht nur das vorethische Chaos des «Lasst sie verrotten». Dem vorethischen Chaos wird durch das «aber mein Bruder» ein Ende gesetzt. Aber ist Antigones Tat nicht deswegen so problematisch, weil sie eben doch eine bereits bestehende Sittenordnung stört? Dies lässt nur einen Schluss zu: Mit ihrem Akt, mit ihrem «aber», entwertet Antigone selbst die vorherige Sittenordnung, indem sie sie auf ein Chaos oder auf verrottende Leichen reduziert. Ein Akt bringt nicht nur Ordnung in das Chaos, sondern vernichtet zugleich die vorher bestehende Ordnung und entlarvt sie als eine falsche Maske des Chaos. Insofern «Ethik» auf der grundlegendsten Ebene ein Netzwerk aus Sitten und Gebräuchen ist, die unser Gemeinschaftsleben ordnen, und insofern Antigones Akt die gemeinsame ethische Substanz außer Kraft setzt, kann dieser Akt nicht etwa als ethische Suspension des Politischen (als Beharren auf der Ethik, wenn eine politische Entscheidung gegen ein ethisches Grundprinzip verstößt) charakterisiert werden, sondern, im Gegenteil, als ein Moment der «politischen Suspension des Ethischen». Das Politische ist im Grunde die Suspension der vorherrschenden ethischen Substanz.

 

Und damit sind wir wieder bei Antigones Parallaxe: Es geht bei der Inszenierung des Stückes im Residenztheater nicht darum, die beiden Seiten der Antigone, die gute und die schlechte, einander gegenüberzustellen, sondern uns vor Augen zu führen, dass die beiden Figuren der Antigone – ihre erhabene Schönheit und ihre monströse Brutalität – eng miteinander verknüpft sind: Wie bei der eingangs erwähnten vulgären Postkarte reicht eine kleine Verschiebung unseres Blickwinkels, um ihr unheimliches Wesen sichtbar zu machen, da Antigones erhabene ethische Haltung auf der äußerst monströsen Störung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung fußt. Mateja Koležniks Inszenierung lehrt uns also, was Rainer Maria Rilke vor hundert Jahren in den «Duineser Elegien» wie folgt formulierte:

«Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.»

 

Diesen Text finden Sie im Programmheft zu «Antigone», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.