«Antigone» im Schuss-Gegenschuss

DREI FRAGEN AN MATEJA KOLEŽNIK

 

 

In der Literaturgeschichte gibt es zahlreiche Interpretationen der «Antigone». Du inszenierst deine eigene Bearbeitung, in der du Sophokles’ «Antigone» mit Slavoj Žižeks «Die drei Leben der Antigone» verbindest. Wie kam es dazu?

Wie bei den meisten Stücken, die ich in meinem Leben inszeniert habe, kam der Vorschlag für den Titel aus dem Haus. «Antigone» wurde mir von der Chefdramaturgin Almut Wagner vorgeschlagen. Wir unterhielten uns während der Corona-Zeit, als ich als prekär Beschäftigte in der darstellenden Kunst (wo menschlicher Kontakt unabdingbar ist) selbstverständlich in tägliche Tests und das ständige Tragen einer Maske einwilligte, um weiterarbeiten zu können. Und wenn ich mit Menschen konfrontiert wurde, die das Gegenteil taten, dachte ich viel über die Auswirkungen persönlicher Entscheidungen auf die Gemeinschaft und vor allem über soziale Verantwortung nach. Es war also irgendwie logisch, Žižeks Sicht auf Antigone zu Sophokles «hinzuzufügen», weil er in seinem Stück diesen breiteren, soziopolitischen Kontext hinterfragt. Ist sich Antigone der Folgen ihrer zutiefst persönlichen und humanen Handlung für ihre Familie und ihr Land bewusst, ist sie sich ihres eigenen Privilegs bewusst oder ist ihre Handlung nur egoistische Widerspenstigkeit?

 

In deiner «Antigone»-Bearbeitung besteht der Chor aus individuellen politischen Stimmen eines Parlaments. Wie kam es zu dieser markanten Veränderung?

Der große Vorteil von Žižeks Text ist der Chor, der unterschiedliche Meinungen und Positionen vertritt. Um es ganz einfach auszudrücken: Sein Chor ruft die Protagonist*innen «zur Verteidigung» auf, vor einer Art moralischem, politischem und philosophischem Gericht. Er hat drei Varianten geschrieben, wie das Stück hätte enden können, und so muss er für jede neue Variante zu einem bestimmten Punkt in Sophokles’ Stück zurückgehen und von dort aus eine andere Auflösung schreiben. Ich habe mich dafür entschieden, ein und dasselbe Ereignis aus zwei verschiedenen Perspektiven zu betrachten und in der zweiten Perspektive habe ich zwei Varianten des Endes von Žižek «zusammengefügt». Die eine, in der eine wilde Masse Kreon die Kehle durchschneidet, weil er den Mann begraben ging, den er wenige Stunden zuvor, kurz nach Kriegsende, zum Verräter erklärt hatte, und fügte ein Ende hinzu, in dem Antigone überlebt und sich den Konsequenzen ihres Handelns stellen muss. So nahm die Struktur des Stücks langsam Gestalt an. Im ersten Akt folgen wir den von Sophokles geschriebenen Texten und Situationen, die sich im Korridor und vor der Tür zu einem Konferenzsaal abspielen (ein sehr ähnliches Prinzip wie 2015 in «König Ödipus» auf derselben Bühne).

 

«Der erste Akt ist eine Familiengeschichte ohne Kontext und der zweite Akt ist die Einbettung dieser Geschichte in einen sozialen Kontext.»

 

Im zweiten Akt erleben wir noch einmal dieselbe Geschichte von Anfang an, nur sehen wir sie von der anderen Seite, und sie dauert in der Narration etwas länger. Wir blicken also in den Konferenzsaal, in dem die Chormitglieder sitzen und das Geschehen auf dem Flur kommentieren, das wir im ersten Akt beobachtet haben. Die Dramaturgin Diana Koloini und ich haben aus den Refrains von Žižek einen endlosen Streit zwischen den Chormitgliedern komponiert, der den zweiten Akt bildet. Und um dies dramatisch zu unterfüttern, mussten sie natürlich «personifiziert» werden. Um es ganz einfach auszudrücken: Der erste Akt ist eine Familiengeschichte ohne Kontext und der zweite Akt ist die Einbettung dieser Geschichte in einen sozialen Kontext.

 

Deine Inszenierung greift das filmische Prinzip des Schuss-Gegenschusses auf. Wie darf man sich das vorstellen?

Mit dem Bühnenbildner Christian Schmidt haben wir die Handlung in einem unterirdischen Bunker unter dem Königspalast angesiedelt, wo die Räume normale Zimmer, Flure und Schlafzimmer nachahmen, nur ohne Fenster und mit zu niedrigen Decken. Das Grundprinzip der Inszenierung ist, ganz banal gesagt, Schuss und Gegenschuss. Das bedeutet, dass wir vom Flur in den Saal in die eine Richtung und vom Saal in den Flur in die andere schauen. Wenn die Tür geschlossen ist, sehen wir die andere Perspektive nicht. Die Schauspieler*innen haben eine komplizierte und schwierige Aufgabe. Einmal spielen sie ihre Szenen im Vordergrund und das andere Mal die gleichen Szenen im Hintergrund. Kurz gesagt, sie müssen das ganze Stück zweimal spielen: in äußerster Präzision und mit absolutem Ensemblegeist. Für diese Bereitschaft bin ich den Schauspieler*innen wirklich dankbar und bewundere sie für ihren gemeinsamen Atem.

 

Diesen Text finden Sie im Programmheft zu «Antigone», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.