Theater: der mutigste, ehrlichste und menschlichste Raum
Über Mariam Magvinytes «HA!» beim WELT/BÜHNE-Festival 2025
Beim diesjährigen WELT/BÜHNE-Festival des Münchner Residenztheaters hat Mariam Megvinyte mit ihrer Vorstellung des Textes «HA!» viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die georgische Autorin war bei der Performance selbst dabei und hat im Nachgespräch einen tieferen Einblick in das Thema des Textes gewährt, sowie Fragen aus dem Publikum ausführlich beantwortet.
Mariam Megvinyte ist eine georgische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Mitbegründerin der Theatre Company Harakiin Tiflis. Seit 2019 leitet sie die freie Gruppe, mit der sie unter anderem eine Adaption von «Hamlet» sowie das dazugehörige Solo-Stück «HA!» produziert hat. Dieses setzt sich vor allem mit den Fragen zu Gerechtigkeit und Schuld, wie auch mit den emotionalen Folgen von Krieg auseinander.
Im Herbst 2025 ist Megvinyte für eine dreimonatige Schreibresidenz am Residenztheater München eingeladen, welche Teil des WELT/ BÜHNE-Festivals für internationale Gegenwartsdramatik ist. WELT/BÜHNE versteht sich als Plattform für neue Stimmen des globalen Theaters, um Theatertexte und Gesellschaften über Grenzen hinweg sichtbar zu machen – und Mariam Megvinyte verkörpert genau das: eine poetisch radikale Stimme der Gegenwart.
Ihr Weg zum Theater verlief dabei alles andere als geradlinig. Sie studierte Politikwissenschaften und Philosophie – Studienfächer und Aufgaben, die ihr viel Stoff zum schreiben gaben, aber letztlich eine Tiefe vermissen ließen. Das Schreiben war für Megvinyte immer präsent, zunächst in Form von Essays und Gedichten. Erst durch einen Schauspielerfreund, welcher einen ihrer Texte für ein Regieprojekt verwenden wollte, kam sie mit dem Theater in Berührung. Seitdem hat sie diesen Raum nicht mehr verlassen.
Was Theater für Mariam Megvinyte bedeutet, ist für sie schwer in Worte zu fassen. Für die Theaterschaffende ist es ein widersprüchlicher, zutiefst menschlicher Ort: mutig, ehrlich und immer durchdrungen vom Unbekannten. Theater ist für sie mehr als nur Inszenierung: Es ist eine Form des Geschichtenerzählens, die nicht nur reflektiert, sondern mitgestaltet. In ihrer künstlerischen Arbeit ringt sie immer wieder mit der Sprache selbst wie auch mit dem Gefühl, dass vieles, was wir sagen, bereits überholt scheint, während etwas Neues im Begriff ist, sich zu formen. Theater und Texte bieten ihr den Raum, diesem Wandel Ausdruck zu verleihen.
Mit ihrer Teilnahme am WELT/BÜHNE Festival betritt Megvinyte nicht nur eine neue Bühne – sie öffnet zugleich den Blick auf eine Kunst, die sich im ständigen Dialog mit ihrer Zeit befindet und zeigt dies insbesondere durch ihre außergewöhnlichen und tiefgehenden Texte.
Historischer und politischer Hintergrund zu «HA!»
Der Text wurde als Zwischenspiel für das Theaterstück «Hamlet» geschrieben. Den Titel des Textes «HA!» kann man daraus ableiten. «HA!» steht sowohl für die zwei Anfangsbuchstaben von «HAmlet», als auch für den sprachlichen Ausstoß von Luft, den Kinder vor ihrem ersten Wort machen, also sozusagen den Anfang des Wortes.
Dennoch ist ein wichtiger Teil des Hintergrundes die politische Lage in Europa, der Welt und für Mariam Megvinyte vor allem in Georgien. Dort lebend hat die politische Lage des Landes einen sehr großen Einfluss auf die Arbeit der Autorin: «Sie diktiert meine täglichen Erfahrungen».
Seit 2012 regiert in Georgien die populistische, konservative und EU-skeptische Partei «Georgian Dream». Zudem liegt Georgien an der Grenze zu Russland und ist somit nah am Kriegsgeschehen zwischen Russland und der Ukraine. Dies führt zu einem sehr angespannten politischen Klima in Georgien. «Das Umfeld ist erdrückend», sagt Megvinyte, das bringt sie dazu, sich in ihrer Arbeit mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dennoch ist das Stück nicht nur auf die politische Lage in Georgien zurückzuführen. Die Autorin selber sagt, dass sie eine starke Verbundenheit zu anderen Teilen der Welt fühlt, die unter ihrer politischen Lage leiden. So ist der Text von «HA!» universell auf politische Ungerechtigkeit einsetzbar. Zudem wird die politische Lage in Georgien immer relevanter für den Rest der Welt und vor allem für Europa. Auch hier verschiebt sich die politische Landschaft in eine konservative, rechtsradikale Richtung. Megvinytes Text soll allgemeine Aufmerksamkeit auf den politischen Wandel lenken.
Analyse und mögliche Interpretationswege der Inszenierung «HA!»
Man muss nicht immer laut sein, um etwas Wichtiges zu sagen - das zeigt auch Mariam Megvinyte in der szenischen Lesung «HA!». Hier entfaltet sie einen erschütternden Monolog, der sich zwischen persönlicher Erinnerung, kollektiver Anklage und politischem Appell bewegt:
«Das Geschrei fängt an, aber du weißt nicht, dass es mich gibt: die Stimme für alles, also hör mich an!»
Ursprünglich als Teil eines «Stück im Stück» für eine «Hamlet»-Inszenierung konzipiert, entwickelte sich «HA!» aufgrund aktueller Kriegsgeschehnisse zu einem eigenständigen Text, der uns als Zuschauende direkt adressiert und emotional herausfordert.
«HA!» wird gelesen von Vassilissa Reznikoff und von Elsa-Sophie Jach, Hausregisseurin des Residenztheaters, szenisch inszeniert.
Im Zentrum steht die Stimme eines getöteten Kindes, das – symbolisch für viele – zu einer universellen Anklage gegen Krieg, Gewalt und Politik wird. Das Kind (Vassilissa Reznikoff) ruft nach der Mutter, es verklagt und fordert:
«Ich bin ein Kind, das getötet wurde, bevor es seine Stimme erheben konnte [...] also hör mich an.»
Die szenische Umsetzung greift diese Sprachgewalt auch visuell auf. Blaues Blut aus Flaschen, welche an der Decke mit Fäden befestigt wurden, tropft auf weißen Boden – eine Metapher für Unschuld und Verwundung. Reznikoff - mal mit, mal ohne Mikrofon - verstärkt den Kontrast zwischen Stille und Schrei, während die Autorin in ausgewählten Passagen auf Georgisch den gesprochenen deutschen Text mitspricht.
Die Nutzung der Bühne spielt ebenfalls eine besondere Rolle in dieser szenischen Lesung. Die Darstellerin verharrt nicht nur an einem Tisch mit einem Stuhl, um den Text vorzutragen, sie bewegt sich durch den Raum und bringt die blaue Farbe durch das Bewegen der Flaschen zum Laufen. Mit fortschreitender Lesung begibt sich Vassilissa Reznikoff auf eine erhöhte Ebene - dargestellt durch einen Hochsitz mit Megafon – und blickt auf uns Zuschauende herab und spricht von dort den Text weiter. Als sie den Hochsitz verlässt, werden auch ihre Hände und ihre Hose mit blauer Farbe bespritzt. Das Ganze wird untermalt von einer düsteren, spannungsaufbauenden Soundkulisse. Solange sie jedoch am Tisch sitzt, schaut sie den Zuschauenden immer wieder tief in die Augen und bricht mit diesem Augenkontakt die vierte Wand, während sie den Text vorträgt.
Klar wird, die Lesung spielt mit den Rollen des Publikums. Als Zuschauer*innen können wir alles aus der Distanz beobachten. Megvinyte durchbricht diese Distanz bewusst. Ihr Text spricht direkt zu den Zuhörenden:
«Für uns werden die Systeme verändert. Für uns werden Frauen vergewaltigt» - Textzeilen, die uns alle zur Verantwortung ziehen.
Auch formal bricht Megvinite mit Konventionen: Satzzeichen, Wiederholungen und Brüche markieren emotionale Aufspaltung und politische Machtlosigkeit. Diese bewusst ungewöhnlich und zersplitterte Schreibweise - die in «HA!» sehr auffällig ist - wird durch die Performance visuell und akustisch verdichtet.
Zu der szenischen Inszenierung hat Mariam Megvinyte folgenden Eindruck. Es faszinierte sie, ihren eigenen Text und ihr eigenes Stück in deutscher Sprache zu hören. Somit hatte sie das Gefühl, dass ein ganz anderer Rhythmus und ein anderes Tempo für den Text entstanden sind. Sie hatte das Skript mit einem bestimmten Hintergedanken für das In-Szene-setzen geschrieben, aber bei dem WELT/BÜHNE-Festival wurde sich sehr auf den Text konzentriert. Dieses Endergebnis war laut Megvinyte weicher und femininer, was ihr sehr gefiel.
Im Nachgespräch wurde deutlich, dass «HA!» eine Reaktion auf Krieg und politisches Versagen ist – vor allem in Bezug auf Georgien, aber auch im Kontext globaler Konflikte.
Ausblick auf weitere Arbeiten der Autorin
Momentan beschäftigt sich Frau Megvinyte mit der Entstehung einer Stadt und mit der Vorstellung, dass diese Stadt von einer Frau regiert wird. Das ist metaphorisch gemeint, denn in den meisten Fällen stimmt dies nicht - aber ihre Recherche und Untersuchungen haben ergeben, dass es so sein sollte.
Außerdem stellt sie sich selbst die Frage, ob man eine Stadt aufgrund ihrer komplexen, komplizierten und fließenden Form mit weiblicher Energie gleichsetzen kann. Dafür verwendet sie den Mythos von Iokaste, der untrennbar mit dem griechischen Mythos von Ödipus und Antigone verbunden ist. Sie versucht, diese aus einem äußeren und möglichst subjektiven Blickwinkel zu interpretieren.
Mariam Megvinyte hat bereits konkrete Pläne für ihre Schreibresidenz am Residenztheater in München: Sie möchte den Mythos von Medea verarbeiten und dabei einen bestimmten Moment während ihrer Flucht mit Jason beschreiben. Mehr verrät sie bisher noch nicht, weswegen man gespannt bleiben und ihre zukünftigen Werke hoffentlich auf dem WELT/BÜHNE Festival 2026 bestaunen kann.
Dieser Text von Mathilda Dürr, Nina Eggers und Nele Thomas entstand im Rahmen des Seminars «Kuratorische Konzepte / Studien zu Ästhetik und Struktur des Gegenwartstheaters» des theaterwissenschaftlichen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München.