ÜBER TONI MORRISON UND «REZITATIV»

Für Toni Morrison (1931-2019) war die Schriftstellerei eine Zweitkarriere - als ihr erster Roman «Sehr blaue Augen» erschien, war sie fast 40 Jahre alt. Sie hatte Englische Literatur an mehreren Universitäten gelehrt und arbeitete seit Mitte der 1960er-Jahre - als erste Schwarze Frau - als Lektorin bei Random House. Sie war eine Schlüsselfigur für die Beachtung Schwarzer Autor*innen im literarischen Mainstream, brachte zum Beispiel die Aktivistin Angela Davis auf die Idee, eine Autobiografie zu schreiben, und arbeitete mit dem Boxer Muhammad Ali an seinen Memoiren. 1974 publizierte sie «The Black Book», das in historischen Dokumenten das Leben der Schwarzen Bevölkerung von der Versklavung bis in die 1920er-Jahre nachvollzieht. Sie wählte ihre eigenen literarischen Waffen, um die Bürgerrechtsbewegung der 1960er und -70er-Jahre zu unterstützen.


Aufgewachsen in der Kleinstadt Lorrain am Ufer des Eriesees in Ohio, beschreibt sie die Zeit ihres Studiums an der Howard University in Washington in den 1950er-Jahren als Moment, in dem sie zum ersten Mal mit Segregation konfrontiert wurde und als Schwarze in Bussen und Restaurants nur bestimmte Plätze einnehmen durfte. Das heißt nicht, dass sie vorher keinen Rassismus erfahren hatte - in Lorrain lebten nur sehr wenige Schwarze Bürger*innen, wie die meisten anderen waren auch ihre Eltern aus den Südstaaten zugezogen. Ihr Vater ließ Zeit seines Lebens keine weißen Menschen in sein Haus. Dass sie als Schwarzes Mädchen zur Schule ging und studieren durfte, war keineswegs selbstverständlich.


Nachdem ihr Erstlingswerk zwar gut besprochen, aber schlecht verkauft worden war, erhielt sie im Verlauf der 1970er-Jahre zunehmend Anerkennung für die folgenden Romane, die sie als alleinerziehende Mutter zweier Söhne in den frühen Morgenstunden vor der Arbeit zu Papier brachte. Erst ab 1983 gab sie die Verlagsstelle auf und widmete sich ganz dem Schreiben und ihren Lehraufträgen.


In die frühen 1980er-Jahre fällt auch ihre Arbeit an ihrer einzigen Erzählung «Rezitativ», die 1983 in der Anthologie «Confirmation: An Anthology of African American Women» veröffentlicht wurde, aber erst 2022 als eigenständiges Buch herauskam (und 2023 erstmals auf Deutsch erschien). Morrison hatte die Geschichte von Twyla und Roberta, die sich im Kinderheim kennenlernen und im Laufe ihres Lebens immer wieder begegnen, zunächst als Theaterstück konzipiert - mit mehr historischen Details und einer klaren Beschreibung der Communities, in denen die beiden Mädchen leben. Doch dann entschied sie sich nicht nur für ein anderes Erzählgenre, sondern auch für ein «poetisches Experiment»: dem Versuch, «in einer Erzählung mit einer Schwarzen und einer weißen Figur, für die ihre mit ihrer Race verbundene Identität von grundlegender Bedeutung ist, alle rassifizierenden Codes zu entfernen».


Morrison entfernt nicht nur Codes - wir erfahren sehr wenig von dem, was Twyla und Roberta zwischen ihren Treffen erleben, es gibt nur grobe Anhaltspunkte für ihre familiären Verhältnisse. Wie die beiden Figuren sind wir als Publikum darauf angewiesen, aus dem, was sie während ihrer Treffen preisgeben, Rückschlüsse auf ihre Lebensumstände zu ziehen. Wir erfahren kaum mehr als die jeweils andere. So rückt in den Mittelpunkt, was die beiden verbindet – ihre gemeinsamen Erlebnisse, ihre Erinnerungen - und oft nur implizit, was sie trennt. Dass das ziemlich viel ist, lässt sich anhand der Tatsache erahnen, dass sie die meiste Zeit in derselben nicht allzu großen Stadt wohnen und sich dort innerhalb von mehr als einem Jahrzehnt nur viermal über den Weg laufen.


Ihren Impuls zu schreiben, beschrieb Morrison in einem Interview 1986: «Ich habe mir gedacht, ich möchte ein Buch schreiben, das nicht versucht, weißen Menschen alles zu erklären oder es zum Ausgangspunkt macht, sich an weiße Menschen zu richten, sondern dass das Publikum jemand wie ich wäre. Dadurch fielen bestimmte Dinge einfach weg: bestimmte Einordnungen, bestimmte Arten von Definitionen. Stattdessen versuchte ich, über meinen Gegenstand nachzudenken - diese Mädchen - ihr inneres Leben, mein inneres Leben. Ich nehme an, ich habe das Gleiche gemacht wie Schwarze Musiker*innen vor mir, das heißt, ich habe mir eine Meinung über mich selbst gebildet, darüber, was an mir wertvoll ist, was nicht wertvoll ist und was es Wert ist, bewahrt zu werden.»


Toni Morrison war von 1989 bis zu ihrer Pensionierung 2006 Professorin für Literatur in Princeton. Neben vielen weiteren Auszeichnungen erhielt sie 1988 den Pulitzer Preis, 1993 den Nobelpreis für Literatur und 2012 die Presidential Medal of Freedom von Barack Obama.



Katrin Michaels