ZWISCHEN SZENENWECHSELN UND SCHALLPLATTENKONZERTEN
REGISSEURIN COSMEA SPELLEKEN IM GESPRÄCH MIT DRAMATURG ILJA MIRSKY
«Irmgard Keun hat es lange ausgehalten im Dritten Reich, sie kennt es, und der Roman […] ist bis zum Rand voll von gescheiten Beobachtungen, oft sehr witzigen und oft sehr schaurigen Details, von kleinen, frappierend lebendigen Dingen, die so durchaus den Charakter der Echtheit, des Authentischen haben, dass es uns ist, als hätten wir sie selbst gesehen, als seien wir ganz persönlich Zeugen gewesen.»
Klaus Mann, 1937, in der Prager Exilzeitschrift «Die neue Weltbühne» über «Nach Mitternacht»
Im Mittelpunkt von Irmgard Keuns Exilroman steht die 19-jährige Sanna, deren Zuhause im Spannungsfeld des politischen Umbruchs der frühen NS-Zeit eine zentrale Bedeutung gewinnt. Was hat dich an diesem Stoff besonders fasziniert und zur künstlerischen Auseinandersetzung inspiriert?
«Nach Mitternacht» ist einer dieser Stoffe, die auf leise, aber unerbittliche Weise ins Mark treffen. Keun hat ein subjektives Zeitdokument geschaffen, das gerade durch seine Zurückhaltung so eindrücklich ist. Mich fasziniert, wie sie das Politische sichtbar macht – nicht über große Reden, sondern durch präzise Alltagsbeobachtungen. Sanna ist keine Heldin. Sie ist keine politische Figur, kein Opfer, keine Widerstandskämpferin. Sondern eine junge Frau, die in einem totalitären System einfach nur leben möchte. Sie gehört keiner direkt gefährdeten Gruppe an. Sie könnte, wenn sie wollte, einfach mit dem System mitlaufen. Und doch hat sie ein feines Gespür für das, was um sie herum passiert – wem man trauen kann, wer ideologisch vereinnahmt ist. Auch wenn sie nicht alles in seiner Tiefe durchdringt, zieht sie am Ende einen klaren Schluss: Ich muss hier weg. Nicht, weil sie eine große Tat vollbringen will, sondern weil sie leben will. Lieben will. Und weil es dafür einen Raum braucht, in dem Gut gut bleibt und Böse böse – solange man sich nicht gegen die «heiligen Zehn Gebote» stellt, wie sie selbst im Stück sagt. Ich finde es zeigt, dass man nicht zur Größe geboren sein muss, um zu erkennen, dass ein gerechtes Leben in so einem System nicht möglich ist. Ich sehe diese Figuren im Stück und habe nicht das Gefühl, historische Personen zu betrachten. Algin, Heini, Liska oder sogar Kurt Pielmann – sie wirken extrem nah. Keun beschreibt keine Rollen im System, sondern vielmehr Haltungen, Reaktionen, Charaktere. Ich erkenne Menschen wieder, die ich aus meinem Umfeld kenne. Und das heißt: Menschen haben sich in ihrer Art nicht grundlegend verändert. Deshalb können auch bestimmte Systeme wiederkehren – nicht, weil Geschichte sich wiederholt, sondern weil die Mechanismen durch Menschen wirksam werden.
In «Das kunstseidene Mädchen», Keuns wohl bekanntestem Werk, heißt es: «Ich will schreiben wie im Film.» Auch in «Nach Mitternacht» bedient sich ihre Sprache filmischer Mittel – Zoom, Rückblende, Totale. Wie hast du diesen filmischen Duktus in deiner Inszenierung umgesetzt?
Der Stoff schreit nicht nach der Theaterbühne – aber genau das war auch das Reizvolle an der Arbeit damit. Die Handlung ist auf 48 Stunden konzentriert, aber voller Rückblenden, Gedanken, Assoziationen. Sie spielt in Bars, Wohnungen, auf Partys – Räume, in denen sich Privates und Politisches unaufhörlich durchdringen. Alle Figuren haben noch die Umbrüche der Weimarer Republik erlebt und sind Teil eines Prozesses, in dem das totalitäre System weiter ausgebaut wird und immer tiefer ins Private eindringt. Als Regisseurin arbeite ich gerne an der Schnittstelle von Theater und Film – und hier konnte ich beides ausreizen, weil auch der Roman diese Mittel literarisch ineinander verwebt. Die Bühne eröffnet einen kollektiven Erfahrungsraum, während die filmische Ebene für Innenwelten, Stimmungen, Zwischentöne genutzt wird. Ein weiteres zentrales Mittel ist der Klang: Radios, Schallplatten, Grammophone. Es geht nicht nur darum, was gehört wird, sondern: Woher kommt das Gehörte? Wird ein staatlich gesteuertes Programm abgespielt oder entscheiden die Figuren selbst, was sie hören? Diese Frage nach Kontrolle und Autonomie war zentral in den konzeptuellen Überlegungen.
Keun zeigt, wie das Radio im Nationalsozialismus zur Propagandamaschine wird. Heute übernehmen diese Funktion soziale Netzwerke. Welche Parallelen siehst du zwischen den damaligen und heutigen Mechanismen der Meinungsbildung?
Die medialen Bedingungen haben sich verändert, aber das Prinzip bleibt vergleichbar: Informationen, die möglichst schnell und emotional wirken, setzen sich durch – damals wie heute. Das Radio war ein zentrales Steuerungsinstrument der nationalsozialistischen Propaganda. Heute übernehmen soziale Netzwerke diese Funktion, allerdings mit einer perfideren Dynamik: Statt kollektiver Gleichschaltung über ein Einheitsprogramm entstehen individualisierte Informationsräume, die gezielt Bestätigung erzeugen und Widerspruch ausblenden. Was früher zentral gelenkt wurde, wird heute algorithmisch gefiltert – und bleibt doch politisch wirksam. Besonders faszinierend an «Nach Mitternacht» finde ich, wie genau Keun beschreibt, auf welche subtile Weise sich Sprache und Kommunikationsformen im Alltag verändern – und wie dadurch Meinungen und Haltungen entstehen. Nicht durch offene Gewalt, sondern durch ständige Wiederholung, durch selektive Betonung und durch das, was plötzlich nicht mehr gesagt werden darf. Keun macht eindrücklich erfahrbar, wie sich gesellschaftliche Stimmungen allmählich verschieben und Menschen sich an neue unausgesprochene Regeln anpassen. Diese Mechanismen sind keineswegs Geschichte – sie wirken auch heute noch, nur über andere Kanäle.