«GSCHICHTN VOM BRANDNER KASPAR» – DIE BAYERN UND DER TOD
Dr. Barbara Kink spürt dem Mythos vom besonderen Verhältnis der Bayern zum Tod nach: Von Jesuitenfrömmigkeit und Beinhäusern bis zum weiß-blauen Himmel des Brandner Kaspar – eine kulturgeschichtliche Reise durch Volksglaube, Klischees und gelebte Rituale.
Den Bayern sagt man ein ganz besonderes Verhältnis zum Tod nach. Dies mag an den besonderen Frömmigkeitsformen und der überwiegend bäuerlichen Lebensweise liegen – und am Konstrukt einer vielbeschworenen barocken «Volksseele». Der Katholizismus, vor allem in seinem jesuitischen Gepräge, hat Bayern über die Jahrhunderte einen deutlichen Stempel aufgedrückt. Hier blieb man relativ unbeeindruckt von den Stürmen der Reformationszeit und hielt an prunkvollen und sinnenfreudigen kirchlichen Ritualen wie Wallfahrten und Prozessionen und generell am barocken Pomp fest. «Bavaria sacra»: Religion ist in Bayern auf Schritt und Tritt sichtbar. Im privaten, ländlichen Bereich lange Zeit im Herrgottswinkel in der guten Stube, im öffentlichen Raum gibt es nahezu kein Dorf oder Weiler ohne Kapelle oder Kirche, auf den Wegen und Straßen finden sich Marterl, Wegkreuze oder Lourdesgrotten. Wer schon einmal in Oberammergau oder Altötting war, weiß, wie nahe Glauben und bauernschlauer Kommerz in Bayern beieinander liegen. Wer den «Tod von Eding» (Altötting), die Herzerlgruft und die Passionsgeschichte in Oberammergau gesehen hat, begreift, dass der Tod und auch der barocke Gedanke des «memento mori» den Bayern vertraut sind.
In ganz Bayern? Der Mythos vom besonderen bayerischen Menschenschlag zieht sich seit der berühmten Aussage Aventins (1477-1534), dass «der baier trinkt, macht vil kinder, sitzt tag und nacht bei dem wein, schreit singt und tanzt» durch bis hin zum heutigen, touristisch vermarkteten Bayernklischee, das die Ethnologin Nina Gockerell 1974 so griffig zusammengefasst hat: «Der lederbehoste Kraftprotz, den grünen Hut mit üppigem Gamsbart oder der Spielhahnfeder, ein trutziges Schnaderhüpfl auf den Lippen, das Gewehr zum Wildern umgehängt; er trinkt seine 8 bis 10 Maß Bier am Tag, dazwischen schnupft er dunkelbraunen Schmei. Diesen hier beschriebenen Seppl aber gibt es nicht nur in der Phantasie norddeutscher Feriengäste, sondern er läuft in der Gegend um Tegernsee und Schliersee oder Bayrischzell tatsächlich und leibhaftig herum. Diese Vorstellung ist eingegangen in die Figuren der bayerischen Bauernbühnen und Volkstheater von heute.»
FRANZ VON KOBELL UND SEINE ZEIT – DIE ERSCHAFFUNG DES BAYERN-KLISCHEES
Und das führt uns direkt in die Zeit Franz von Kobells (1803-1882) und seinem Kultstück vom Brandner Kaspar. Denn in der Lebenszeit Kobells erhielt dieses Bayernbild alle «Zutaten», von denen der Bayern-Tourismus auch heute noch gut lebt. Nach der Erhebung zum Königreich 1806 versuchten die Wittelsbacher die Bayern zu einen und eine «bayerische Identität» zu konstruieren. Die bayerisch-nationalen Stereotypen wurden auf die alpinen und altbayerischen Bevölkerungsteile verengt, die Schwaben und Franken mussten sich fügen. Bekannt ist die wehrhafte «Bavaria» an der Theresienwiese als national-bayerisches Sinnbild, weniger bekannt ist die gleichnamige achtteilige Landesbeschreibung, die wissenschaftlich fundiert vom Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823-1897) verfasst wurde. Auftraggeber war König Maximilian II., der selbst «Feldforschungen» anstellte. Franz von Kobell durfte «seinen» König 1858 bei einer Fußreise von Lindau nach Berchtesgaden begleiten. Auf dieser Reise studierte man die «Eingeborenen», sammelte Lieder, Sagen, Bräuche und Sprüche. Aber auch so war dem Tausendsassa, dem Mineralogen, Fotografie-Pionier, Mundartdichter und passionierten Jäger Kobell, die Gegend am Tegernsee gut vertraut durch seine Sommeraufenthalte im Landhaus des Schwiegervaters in Egern.
Die Menschen im bayerischen Oberland und deren fatalistischer Umgang mit dem Tod haben Kobell inspiriert für seine Geschichte vom «Brandner Kaspar», die 1871 als Prosastück in den «Fliegenden Blätter» in einer Zeit voller Brüche und Widersprüche erschien: Die beginnende Industrialisierung wurde spürbar und mit ihr die Krise des Handwerks und der Landwirtschaft, der Kulturkampf war in vollem Gange und damit die Rolle der katholischen Kirche in Frage gestellt, das preußische Kaiserreich drohte Bayern zu verschlucken und versetzte die Menschen mit Krieg, neuer Währung und neuen Bürokratieformen in Angst und Schrecken. Die «Gschicht vom Brandner Kasper» hatte alle Ingredienzen, die das Bayernbild damals zu bieten hatte: Von der grandiosen Bergkulisse über die barocke Lebensfreude des «homo alpinus» und seiner bäuerlich-handwerklichen Lebenswelt bis hin zum schlitzohrigen Brandner, der mit Alkohol und Betrug sogar die unumstößlichste Tatsache jeden menschlichen Lebens, den Tod, bescheißen konnte.
DER BOANLKRAMER UND DER TOD
Der Tod kam schnell und unverhofft in dieser Zeit: Die große Cholera-Epidemie in München 1854 etwa hatte nicht einmal die Wittelsbacher verschont, die Tuberkulose und das Kindbettfieber grassierten. Dem 1870er Krieg als erstem industriell geführten Krieg fielen Hunderttausende Menschen zum Opfer. Jederzeit konnte er anklopfen, der Schnitter Tod – und er mähte ohne Unterschied alles nieder. Vanitas vanitatum! Der enge Freund und Zeitgenosse Kobells, Franz Graf von Pocci, hatte 1862 einen Totentanz veröffentlicht, bei dem der Tod in ganz barocker Tradition allen zum Tanz aufspielte. Diese Darstellungsform, ausgelöst durch Pestwellen und Dreißigjährigen Krieg, mit seinem zutiefst demokratischen Grundgehalt, dass egal ob jung, alt, reich oder arm, im Tod alle gleich sind, hat zu allen Zeiten Künstler*innen in Literatur, Musik und darstellender Kunst inspiriert. Gott sei Dank auch Franz von Kobell!
Die Personifizierung des Todes hat lange Tradition: Vom mittelalterlichen Mysterienspiel bis hin zum «Gevatter Tod» von Terry Pratchett – die Menschen wollen ihn fassen, benennen – und mit ihm hadern und handeln können. Der Boanlkramer bei Kobell ist ein gemütlicher Geselle und ein eher gütiger, ja fast schon tumber und naiver Charon, der sich von seinem «Mandanten» mit Kerschgeist und einem simplen Taschenspielertrick betrügen lässt. Seine Auftraggeber, die bürokratischen Journaille-Führer im Himmel, erscheinen zwar preußisch korrekt, verlieren aber manchmal doch die Kontrolle und Übersicht. Der Name des Boanlkramers erinnert im Übrigen an die Beinhäuser, die man seit dem späten Mittelalter in vielen bayerischen Friedhöfen fand. Die Sekundärbestattung von Gebeinen, vor allem von Schädeln, die oftmals kunstvoll bemalt wurden und ihren Besitzer benannten, war platzsparend und ist Bestandteil der Begräbnisriten im Kontext des Katholiken sehr vertrauten «Reliquienkultes». Die Beinhäuser oder Karner waren aber zudem eine beständige Mahnung an die Lebenden. Oft zu finden war hier der Spruch: «Was ihr seid, waren wir – was wir sind, werdet ihr sein».
«Wie es einem aufgesetzet ist», ist in Bayern ein geflügeltes und oft verwendetes Sprichwort und nimmt den Lebenden viel Verantwortung über das eigene Leben und Sterben ab. Der fatalistische Umgang mit dem Tod bildete sich über die Jahrhunderte in einer überbordenden Fülle von Bräuchen und Ritualen ab: Ein gutes Beispiel ist etwa die «Versehgarnitur mit Sterbekreuz», die man als Vorbereitung für die letzte Ölung, zur Firmung oder zur Eheschließung bekam und das im Nachtkasterl aufbewahrt beständig an die eigene Vergänglichkeit mahnte: «Mitten wir im Leben, sind vom Tod umgeben». Die Redensarten vom «letzten Hemd, das keine Taschen hat» oder von der «scheenen Leich» als Synonym für eine gelungene Beerdigung sind beredte Zeugnisse von einem lakonischen Umgang mit dem Tod, den Kobell und die «Volkskundler» des 19. Jahrhunderts in ihren ethnologischen Studien der Bayern beschrieben. Das Sterben, Aufbahren und Begraben eines Menschen glichen einer dramatischen und lang erprobten Inszenierung. Die Frage «weint man bei Euch vom Haus weg oder erst am Friedhof» kam gar nicht erst auf, denn jeder und jede wusste, was wann zu tun ist.
Der Tod als integraler und unausweichlicher Bestandteil jeder Existenz konnte jedoch auch besser akzeptiert werden, wenn man fest daran glaubte, dass danach noch etwas kommt. Der Frühneuzeit-Historiker Arthur E. Imhof schreibt in seinen «Verlorenen Welten» mit kulturpessimistischem Unterton: «Leben bestand damals aus einem mehr oder weniger wichtigen, mit allerlei Geschäftigkeiten ausgefüllten irdischen Teil und einem unvergleichlich wesentlicheren und längeren, nämlich ewigen Teil in der jenseitigen Glückseligkeit. Was spielte es da schon für eine Rolle, ob man hienieden bereits mit zehn oder zwanzig, oder erst mit fünfzig oder sechzig, oder sogar achtzig oder hundert Jahren wieder von der Bühne abtrat? Was bedeutet somit schon eine Verdoppelung oder Verdreifachung des uns nun einzig gebliebenen irdischen Teils angesichts einer verlorenen Ewigkeit?»
DER HIMMEL DER BAYERN
Der bayerische Himmel ist bei Kobell ein weiß-blaues Paradies. Er erinnert an die Werbung einer bayerischen Biermarke und an die Glückseligkeit im «erdbebensicheren Terrain» des Biergartens von Gerhard Polt. Wohl keine andere Jenseitsvorstellung hat die Phantasie vieler Menschen so beflügelt und getröstet wie die Darstellung himmlischer Gefilde bei Kobell – kultig visualisiert im Klassiker von Kurt Wilhelm aus dem Jahre 1975, der im Münchner Residenztheater uraufgeführt wurde. Auffällig ist, dass die «Gschicht vom Brandner Kasper» so gut wie gar nichts über die Hölle erzählt. Die von der Kirche seit Jahrhundert beständig geschürte Angst vor der ewigen Verdammnis und den darin auszuhaltenden Höllenqualen wird einfach ausgeblendet: «Tod, wo ist dein Stachel»?
Der Tod gehört zu den letzten Tabuthemen unserer säkularen Gesellschaft. Medial ist er zwar allgegenwärtig, aber gestorben wird diskret und einsam im Pflegeheim und im Krankenhaus. Und auch wenn wir Heutigen den Tod mit den Segnungen der modernen Medizin zu überlisten versuchen, so ist es nur ein vordergründiger Sieg. In seinem BR-Radiobeitrag «vorgezogene Lagerräumung» von 2003 spricht Carl Amery davon, dass man «todesbereite Greisinnen und Greise an den widerlichsten Maschinen für mechanistische Lebenserhaltung zu schmieden [versucht], nur um in einem weitgehend abstrakten Wettstreit über den alten Gegner zu triumphieren.»
Ein letzter Aspekt soll noch genannt werden: Der Brandner akzeptiert den Tod schließlich aus einem einfachen Grund: Was soll er denn alleine noch im Diesseits? Die Seinigen sind alle schon «heimgegangen» – ein Topos, der bei den meisten Beerdigungen auch heute noch verwendet wird. «Dahoam» ist der Ort, an dem die anderen, die Familienmitglieder und die Freunde sind. Und so ist von Kobell über Wilhelm bis hin zu Kroetz der Himmel nicht zuletzt in der Zugehörigkeit zu einem tragfähigen, sozialen Kollektiv und in einer wie auch immer gearteten Gemeinschaft zu suchen. Und dies unterscheidet das bayerische Nationalepos vom «Brandner» ganz fundamental von der existentialistischen Vorstellung Jean-Paul Sartres, von einer Hölle, die die anderen sind.
Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.