DIE SPRACHE DER KÖRPER

Dramaturgin Barbara Sommer im Gespräch mit der Choreografin Sabina Perry

Sabina Perry ist Performerin und Choreografin für Tanz und Theater. Sie wächst in Kanada auf und besucht die nationale Ballettschule. Dort sagt man ihr, sie rede zu viel und stelle zu viele Fragen. Daraufhin wechselt sie zum Modern Dance, dem Ausdruckstanz, und verbringt viele Jahre auf verschiedenen Bühnen Europas. Als sie als Choreografin für eine Schauspielproduktion angefragt wird, fühlt sie sich endlich angekommen. «Erfolg» ist die neuste Produktion in der langjährigen Zusammenarbeit mit Regisseur Stefan Bachmann. Die Romanadaption präsentiert das gesellschaftliche Panorama der bayerischen Hauptstadt München im Jahre 1923: Zwischen Revue und Hitlerputsch, politisierter Justiz und Freiheitskampf, Einzelschicksal und Gesellschaft. Im Gespräch mit Dramaturgin Barbara Sommer spricht Sabina Perry von ihrer Arbeit mit den Schauspieler*Innen, ihrem Verständnis von Choreografie und von ihrer Suche nach Künstlichkeit.

 

Du arbeitest jetzt schon seit 10 Jahren mit Stefan Bachmann zusammen. Eure erste Produktion war Heinrich von Kleists «Das Käthchen von Heilbronn» 2014 am Schauspiel Köln. Wie seid ihr eigentlich zusammengekommen und wie hat sich eure Zusammenarbeit entwickelt?

Wir haben uns sehr zufällig gefunden. Es gab damals eine Produktion am Schauspiel Köln, bei der es etwas gekriselt hat. Zwischen den Schauspieler*innen und dem Regieteam waren Spannungen, die wir, Stefan als Intendant und ich als Choreografin, versucht haben zu lösen. Dabei haben wir gemerkt, dass wir eigentlich in puncto Arbeit mit den Schauspieler*innen sehr gut harmonisieren. Etwas später kam dann der Anruf: Stefan Bachmann will dich als Choreografin für seine nächste Inszenierung engagieren.

Über die Jahre haben wir dann versucht, eine gemeinsame Sprache zu finden: ein Zusammenspiel aus Körperarbeit und Regiehandschrift. Heute haben wir einen Stand erreicht, in dem unsere beiden Elemente perfekt ineinandergreifen. Wir haben eine gemeinsame Form für die Bühne gefunden.  

Wenn ich dich auf den Proben oder auch jetzt von deiner Tätigkeit sprechen höre, redest du mehr von Körperarbeit, weniger von Choreografie. Wie kommt das?

Ursprünglich komme ich ja aus dem Tanz. Das ist eine ganz andere Welt. Dort spricht man eine ganz andere Sprache. Es war eine große Umstellung für mich, Choreografien für das Sprechtheater zu entwickeln. Um aus den Schauspieler*innen das Beste herauszubringen, muss man anders arbeiten als mit Tänzer*innen. Es hat dementsprechend lange gedauert, bis ich im Rahmen des Sprechtheaters meinen eigenen Weg gefunden habe. In diesem Zusammenhang passt der Begriff «Choreografie» für mich nicht mehr. Heute interessiere ich mich vor allem für Tools, Werkzeuge, Zustände, Gefühle und Atmosphären, für die Frage nach der Körperlichkeit der jeweiligen Figur und dafür, wie sich Körperlichkeit  im Kontext des Raumes verändern kann.

Könntest du kurz beschreiben, wie deine Arbeit mit den Schauspieler*innen aussieht? Was passiert auf den Proben?

Körperarbeit oder auch körperliche Dramaturgie besteht bei mir darin, eine Toolbox zusammen mit den Schauspieler*innen zu entwickeln. Gemeinsam mit Regie, Musik, Text und Kontext entstehen Werkzeuge, die später in den szenischen Proben eingesetzt werden können. Diese Tools können aus einfachen Gefühlen oder Situationen bestehen oder aus mehrteiligen Sequenzen. Sie können recht simpel sein, aber auch sehr komplex. Da ist alles möglich. Diese Bilder oder Modi können später in den szenischen Proben in unterschiedlichen körperlichen Lautstärken frei verwendet werden.

Hast du schon vor Probenstart eine genaue Vorstellung, welche Tools du für die jeweilige Produktion entwickeln möchtest? Oder wartest du da auf den Text oder auf das persönliche Kennenlernen der Schauspieler*innen?

Meine Arbeit beginnt eigentlich schon, wenn ich die Fassung oder das Stück bekomme. Dann suche ich breit gefächert nach Themen und Farben, die ich entwickeln möchte. Bei «Erfolg» ploppten da für mich als gebürtige Kanadierin zuerst Themenbereiche wie Deutschland, München, bayerische Kultur und Stereotype auf. Welche Version von Deutschland und Bayern würde man zum Beispiel als Tourist*In erwarten? Dazu kommt das historische Setting: die 1920er-Jahre, drr Ausdruckstanz, der deutsche Expressionismus, die Revue, das Feiern, die Freiheit. Das dritte Thema in «Erfolg» war für mich das Thema der Macht. Der Roman beschreibt auf 900 Seiten, wie mit Macht umgegangen wird, wer sie hat und wer nicht. Ein Thema wie Macht ist spannend, weil es sich nicht sofort und eindeutig ins Körperliche übersetzen lässt. In der Zusammenarbeit mit Stefan sind das dann keine realistischen Übersetzungen. Wir suchen immer nach Abstraktionen.

Basierend darauf stelle ich Übungen zusammen, die ich mit den Schauspieler*innen in den Proben ausprobiere. Dann funktionieren wir wirklich wie eine Tanzkompanie: wir probieren und entwickeln alles zusammen. Erst später differenzieren wir zwischen den einzelnen Figuren.

Das heißt auch die Toolbox ist für alle und nicht spezifisch auf eine Figur ausgerichtet?

Klar gibt es Tools, die für gewisse Figuren als Vorbereitung bestimmt sind. Aber gerade im Sinne des Teambuildings und der tänzerischen Disziplin ist es mir wichtig, dass wir alles gemeinsam erarbeiten. Der Versuch ist, im Körpertraining keine Hierarchie zwischen den Darstellenden aufzubauen. Jeder und jede darf alle Tools haben und benutzten. Die Tools sind nicht exklusiv für einzelne Personen. Ausserdem macht es gute Laune, wenn man jeden Tag zusammen tanzt.

Inwiefern haben die Schauspieler*innen Einfluss auf diesen Prozess?

Die Stärke ist gerade bei Schauspieler*innen – im Gegensatz zu Tänzer*innen – die Individualität, mit der sie die einzelnen Tools ausführen. Das ist das Schöne im Sprechtheater. Wir haben unterschiedliche Körper in unterschiedlichen Formen, mit unterschiedlichen Fitness- und Altersstufen. In dieses vielseitige Sortiment von Körpern habe ich mich verliebt. Wenn ich jetzt klassisches Tanztheater ansehe, irritiert mich diese vorherrschende Gleichförmigkeit nur noch.

Bei dir fällt in den Proben immer wieder der Begriff «Approach». Was verstehst du darunter?

«Approach» ist für mich ein methodischer Begriff, mit dem ich mich von dem im klassischen Tanztheater angestrebten Perfektionismus abgrenzen kann. Schon in der nationalen Ballettschule in Kanada hat sich in mir irgendetwas gegen diesen Perfektionismus gewehrt. Als ich selbst Choreografin geworden bin, habe ich versucht, nicht nur auf das Endprodukt hinzuarbeiten, sondern den Weg zu fokussieren. Ein «Approach» ist der Weg zu einem Ziel, das noch nicht definiert ist und vielleicht auch nie definiert sein wird. Das unterstützt den Prozess auf verschiedenen Ebenen: Mir als Choreografin hilft es, loszulassen und den Weg mit all seinen Veränderungen zuzulassen. Und die Schauspieler*innen verstehen, dass Körperlichkeit eben nicht nur aus einem festgelegten Bewegungsablauf besteht.

Das gibt auch den Schauspieler*innen Mut, Dinge auszuprobieren, oder? Denn es gibt eben kein richtig oder falsch, keine Wertung.

Genau, das meine ich! Am Ende eines Probenprozesses kommt immer der Punkt, an dem man Dinge konkretisieren und polieren muss. Aber dieser letzte Schritt ist viel kleiner als die Arbeit, die die Schauspieler*innen vorher geleistet haben. 99 % der Arbeit passiert im Approach. Erst dann kümmert man sich um Kleinigkeiten wie gestreckte Finger.

Ist das für dich auch eine Art Lebensphilosophie?

Absolut. Jeder Moment meines Lebens, jeder Schritt, jede Bewegung ist ein körperlicher Approach. Alles trägt seine Bedeutung bereits in sich. Das Ziel ist nicht festgelegt. Wir denken immer, dass sich alles im Kopf ereignet, aber eigentlich leben tun wir in und durch unsere Körper. Da geht es für mich um Aufmerksamkeit, um Präsenz und um Intention. Alles ist ein Approach, auch ein Händeschütteln, ob die Hände sich nun treffen oder knapp verpassen.

Du hast es vorher schon kurz angesprochen: Du suchst in deiner Arbeit nicht unbedingt nach Realismus, sondern mehr nach einer Art von Künstlichkeit. Wie würdest du das beschreiben?

Ich suche immer nach einer Art von Überhöhung. Mich interessiert es die Realität als Ausgangspunkt zu nehmen und sie dann bis ins Extrem aufzublasen. Gerade im Schauspiel sehe ich einen großen Mehrwert in dieser extremen Körperlichkeit. Für «Erfolg» habe ich mich von Mary Wigman und Rudolf von Laban inspirieren lassen, wie auch von den Filmen der damaligen Zeit, wie z. B. Metropolis.

Machst du während der Probenprozesse viel vor? Oder gibst du mehrheitlich Anweisungen und lässt die Schauspieler*Innen improvisieren?

Ich mache sehr viel vor. Mein Körper ist schließlich mein wichtigstes Tool. Bei Schauspieler*innen ist es allerdings wichtig, Erklärungen und Inhalte mitzuliefern. Vielen Schauspieler*innen hilft es mehr als genaue technische Anweisungen, wenn ich ihnen Gefühle und Situationen beschreibe, in die sie sich hineinversetzen können.  In den Momenten, in welchen man Tänzer*innen einfach sagen würde, welche Muskelgruppe das jeweilige Tool aktiviert, in denen beschreibt man Schauspieler*innen eine Situation, ein Gefühl, eine Atmosphäre oder eine Temperatur im Raum.

Welche Rolle spielt der Raum für deine Arbeit? Vor allem bei «Erfolg» gibt der Raum eine sehr klare Setzung vor: Wir haben die Enge des Gefängnisses und im Gegensatz dazu die totale Weite.

Was ich an kleinen oder engen Räumen, die unser Bühnenbildner Olaf Altmann ja auch gerne macht, spannend finde, sind die ganz konkreten Grenzen, z.B. durch zu tiefe Decken. Diese Räume beeinflussen den Körper sehr stark. Man muss sich verbiegen, krabbeln oder ducken. Durch die Bühne wird man in eine Körperlichkeit gezwungen, die ich weiter stilisieren kann. Das Gegenteil passiert im weiten Raum: Die Körper bestimmen den Raum. Sie haben Einfluss auf die Raumtemperatur, auf Grenzen im Raum und die Atmosphäre. Ohne die Körper bleibt diese Bühne ein leerer Raum. Und die Bühne von «Erfolg» bietet beide Varianten. Das ist für mich eine spannende und herausfordernde Grundanlage.


Das Programmheft zu «Erfolg» ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.