Enigma Variationen

C. Bernd Sucher über «James Brown trug Lockenwickler»

Endlich wieder ein neues Stück von Yasmina Reza: «James Brown mettait des bigoudis – James Brown trug Lockenwickler». Und wieder eine Uraufführung nicht in Frankreich, nicht in französischer Sprache, sondern in einer deutschen Übersetzung und in München! Deutsche Theatermacher (und -kritiker auch) sind ganz besondere Fans dieser Schriftstellerin, die ihre Karriere als Schauspielerin begann und vielleicht genau deshalb so viel vom Theater versteht, von seinen Bedingungen und seinen Reizen. «James Brown trug Lockenwickler» ist ein kurzer Text für fünf Personen – selten ist das Reza-Personal größer. Ein Text, mit dem die Dramatikerin stilistisch wieder zu ihren Anfängen zurückkehrt, ein Text, in dem alle Qualitäten, die Yasmina Rezas dramatisches Œuvre und dazu ihre Prosaarbeiten auszeichnet, wieder aufleuchten. Das bedeutet: Es gibt sie diesmal nicht die großen Streitdialoge, nicht die durchaus komischen Mann-Mann-Matches wie in «Kunst» oder die Frau-Mann-Schlachten wie in «Der Gott des Gemetzels», was einige Zuschauer und Leser womöglich enttäuschen dürfte (aber nicht sollte!). Nichts ist darin, was erinnern könnte an Yasmina Rezas böse, satirische Gesellschaftskomödien, die auf den Bühnen der Welt Hits waren und in Deutschland so gefeiert wurden wie nirgendwo anders. Stattdessen: stille Rätsel, Missverständnisse und Spurensicherungen.

«James Brown trug Lockenwickler» ist ein zartes Gebilde, eines, das viele Fragen stellt und nicht eine einzige Frage beantwortet; eines, das einmal mehr den spezifischen Reza-Klang hat. Und dieser Klang und dieser Rhythmus, der nicht zuletzt durch den Wechsel von längeren Passagen und ganz kurzen Einwürfen – meist sind es die Worte «Ja» oder «Nein» oder ein kurzes «Ach so?» – entsteht, zeichnet alle Texte Yasmina Rezas aus, auch ihr durchaus umfangreiches Prosawerk.

Es ist wenig verwunderlich, dass diese Liebe zur Sprache, zum Klang der Sprache, und zum Metrum bei dieser Autorin korrespondiert mit einer begeisterten Wertschätzung der Musik. Ihr Credo: «Ich halte die Musik für die größte aller Künste», deshalb braucht sie Regisseure und Regisseurinnen, die Musik lieben und möglichst schon Opern inszeniert haben. Deshalb war Luc Bondy, der an verschiedenen Bühnen viele Reza-Werke als Erster präsentierte, der Richtige; und Philipp Stölzl, der 2017 an der Bayerischen Staatsoper Umberto Giordanos «Andrea Chénier» inszenierte, ist gleichfalls prädestiniert, den Sound dieser Sprache zu finden.

Reza-Leser bemerkten, lasen sie nur aufmerksam genug, dass es wiederkehrende Elemente in allen ihren Texten gibt. Fast alle ihre Hauptfiguren stammen aus einem großbürgerlich jüdischen Milieu, und immer gibt es einen starken Bezug zu den Künsten. Das jüdische Milieu spielt in dem neuen Stück, wenn überhaupt, eine versteckte Rolle, aber die Künste, sie sind präsent – durch die Musik: durch James Brown, ihn allein benutzt für den Titel. Und durch die Sängerin Céline Dion – sie ist die eigentliche Protagonistin.

Diesmal heißt Rezas Hauptthema, das sie, bleiben wir bei der Musik, bearbeitet, wie eine Komponistin gestaltet, also Durchführungen erfindet: Identität. Yasmina Reza, die bekennt, dass «man wirklich gut nur über seine eigenen Obsessionen schreiben kann», stellt Menschen vor, die instabile Identitäten haben. Ein junger Mann, er heißt Jacob Hutner, glaubt, er sei Céline Dion, imitiert deren Stimme – dichtet und komponiert Songs, die er/sie als die Dion den Eltern vorträgt. Er will nicht mehr bei seinem Spitznamen Muck genannt werden. Er spielt – oder ist? – die verletzliche und gefeierte Diva. Sein Freund Philippe, den Jacob in der Klinik kennenlernt, dort, wo sie beide geheilt, abgebracht werden sollen von ihrem «Wahn», jemand anders zu sein, ist ein weißer Junge, der glaubt, er sei ein Schwarzer. Auch die Eltern von Jacob wissen nicht so recht, wer sie sind; und die namenlose Psychiaterin, die sich der beiden jungen Männer annimmt, hat auch keine kleinen Schwierigkeiten mit sich selbst.

Den drei Hutners waren Leser schon begegnet in Rezas Buch «Glücklich die Glücklichen». Schon darin erlebten wir die verzweifelten Eltern, die miterleben müssen, wie ihr Sohn sich allmählich in die Sängerin Céline Dion verwandelt.

Yasmina Reza erforscht menschliches Verhalten und versucht, dem Unbekannten auf die Schliche zu kommen. Sie konfrontiert uns mit Personen, die alle «gestört» sind – eben nicht bloß die beiden Jungen. Lionel Hutner hat die größten Verhaltensstörungen. Mal schaffte er es nicht, in einer Badeanstalt um einen Liegestuhl zu bitten, und immer wieder debattiert er mit sich selbst, wieviel Trinkgeld er dem Friseur geben soll. Seine Frau kann ihm nicht helfen und nicht einmal beschwichtigen. Sie wähnt sich gesund. Ist sie es?

Glaubt die Psychiaterin, sie sei gesund? Sicher ist nur: Als Autofahrerin gefährdet sie alle anderen Verkehrsteilnehmer wie eine Terroristin. Sie fährt extrem langsam, weil sie es vermeiden will – und ihr Leben lang erfolgreich vermieden hat – zu bremsen. Stolz verkündet sie, die längsten Strecken gefahren zu sein, ohne jemals das Bremspedal getreten zu haben.

Yasmina Reza untersucht menschliches Verhalten. Sie zeigt es, aber sie wertet es nicht. Fragt man nach der Lektüre, wer von allen Figuren ihr der liebste oder die liebste ist, wird man keine Antwort finden. Viel stärker als je zuvor ist die Dramatikerin eine dramatische Märchenerzählerin, die mit den kleinsten Zeichen Nähe gestalten und zwischen den Personen offenbaren kann. Am Ende mag man glauben – weil man es glauben möchte –, dass ihre größte Sympathie dem jungen Jacob gilt. Jakow – das bedeutet im Hebräischen: den Gott schützen wird. Jakow, der «gestörte» Junge, ist auf liebenswerte Art gesund; und er ist hellsichtig. Mitleidig bemerkt er, wie schlecht es seinen Eltern geht. «Geht’s euch beiden gut?», fragt er. Der Vater lügt: «Na und wie»; die Mutter lügt im Superlativ: «Ganz wunderbar». Jacob, der Sohn, weiß, dass sie ihm nicht die Wahrheit gesagt haben und fragt, ob er ihnen ein kleines Märchen erzählen dürfte.

 

Das erste Drama, das ich von der Französin las, war «Gespräche nach einer Beerdigung», ein Kammerspiel, ein Diskurs über das Schreiben und die Musik und – ganz im Tschechow‘schen Sinn – auch der Versuch, eine Antwort auf die unbeantwortbare Frage zu finden, was das Leben ist. Dieses Stück wurde in Frankreich durchaus geschätzt, aber es war kein Kassenknüller, kein Publikumsrenner. So wenig wie Yasmina Rezas zweites Stück «Reise in den Winter», ein Sechs-Personen-Stück. Es wurde 1990 im Centre Dramatique d’Orléans uraufgeführt. Wieder ein durchaus ernstes Stück, sehr filigranes Stück, in dem nur manchmal Witz aufschien, wie in «James Brown» auch, niemals grob. Diesem Werk hatte die Jüdin Yasmina Reza einen chassidischen Spruch vorausgestellt, einen Dialog aus der jüdischen Mystik. Ein Verweis auf die Fragilität von Identität:«Warum läufst du die ganze Zeit durch den Wald? – Ich suche Gott, sagte der kleine Junge. – Aber ist Gott nicht überall? – Doch Vater. – Und ist er nicht überall derselbe? – Doch … aber ich bin nicht überall derselbe.»


Den Originalbeitrag von C. Bernd Sucher finden Sie im Programmheft zu «James Brown trug Lockenwickler», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als Onlineversion zum Download hier.