«Brief aus Vilnius»

von Birutė Kapustinskaitė

Liebe Almut Wagner, 

Liebe Dramaturgie des Residenztheaters,

 

als ihr mir geschrieben habt, war ich in Sakartvelo im Skiurlaub. Dort erreichten uns die Nachrichten über die russische Invasion in der Ukraine. Wir waren geschockt.

Jetzt sind wir zurück in Vilnius. Alle hier versuchen so gut zu helfen, wie sie können: Manche melden sich als freiwillige Helfer*innen, jede*r schickt Geld oder kauft wichtige Dinge wie Schlafsäcke, Hygieneprodukte, technisches Zubehör und Medizin für die Ukrainer*innen. Drei Millionen litauische Bürger*innen haben in zwei Tagen mehr als fünf Millionen Euro gesammelt, und ich gehe davon aus, dass es inzwischen dreimal so viel ist. Die Trucks mit Kleidung und anderen Hilfsgütern werden so schnell beladen, dass man in der Regel nicht schnell genug ist mit seinen Sachen und auf den nächsten Transport warten musst. Überall in der Stadt gibt es ukrainische Flaggen und Poster, alle Geschäfte sammeln Geld, indem sie ihre Einnahmen von Theatertickets, Kleidung oder selbst Getränken spenden, um der Ukraine zu helfen. Viele Menschen nehmen Geflüchtete zuhause auf und wir sind alle wirklich verbunden im Moment.

 

Unser Land erinnert sich sehr deutlich daran, wie gefährlich und desaströs russische Aggression sein kann. Die Kriegsverbrechen, die die russische Armee in der Ukraine verübt, sind unmenschlich – das hat alle hier sehr mitgenommen. Die erste Woche konnte niemand arbeiten oder Alltägliches machen – alle standen unter Schock. Wir helfen so gut wir können, neben Spenden blockieren wir russische Propagandaseiten, wir schreiben Kommentare auf Webseiten für Restaurantkritiken, Frauen ändern ihren Wohnort auf Tinder zu Moskau und verbreiten auf ihren Profilen Fakten über den Krieg. Informationen sind ein großer Teil der russischen Kriegsstrategie. Ich habe die Nachrichten gehört und Posts und propagandistische Kommentare gelesen, die in Russland verbreitet werden, es ist fürchterlich, es ist zynisch, es ist so eine große Lüge, die viele Menschen dort glauben.

In Litauen gibt es natürlich auch russischsprachige Bürger*innen, aber alle versuchen, Konflikte zu vermeiden und auch sie zu unterstützen, weil auch sie litauische Bürger*innen sind; auch sie helfen der Ukraine, und es sollte ihnen kein Hass entgegengebracht werden. Natürlich gibt es hier auch Leute – Litauer*innen oder Russ*innen oder Litauer*innen mit russischen Verwandten –, die hier Propaganda im Sinne Putins verbreiten, aber es werden schnell Strafanzeigen gestellt.

Zusätzlich zu dem nicht enden wollenden Facebookfeed, der mit Nachrichten über den Krieg gefüllt ist, zusätzlich zu der Hilfe und der Unterstützung, die wir für die Ukraine sammeln, denken wir auch über unsere eigene Sicherheit nach, kaufen extra Lebensmittel und Medizin, manche packen ihre Sachen, nur für den Fall der Fälle.

 

Es fühlt sich alles surreal an. Ich glaube, falls Putin nicht in der Ukraine stoppt, wird es ganz Europa und die NATO betreffen. Ich hoffe und wünsche mir, dass die russische Bevölkerung eine Revolution gegen Putin startet. Aber im Moment sieht es so aus, als würde die Propagandamaschine noch funktionieren und Menschen, die eigentlich handeln könnten, sind noch zu verängstigt und es gibt momentan zu wenige von ihnen und wir haben nicht die Zeit, darauf zu warten. Russische Banken sollten definitiv endlich von SWIFT abgeschnitten werden, eingerechnet die letzten beiden, die noch funktionieren, und alle Gas-Streams sollten abgeschnitten werden, ohne Angst vor einer steigenden Inflation und ansteigenden Preisen. Es sollte nicht wichtig sein und es wirkt zynisch, dass das jemandem wichtig ist, wenn ganz real Menschen sterben. Aber der entscheidende Faktor dabei ist Zeit. Denn es dauert zu lange, bis diese Sanktionen wirklich funktionieren und Russland so unter Druck zu setzen, dass der Krieg aufhört oder die Revolution gegen Putin beginnt (falls das jemals passieren wird). Aber die Bomben fallen vom Himmel, der immer noch nicht gesperrt ist und der Preis, den der Rest der Welt bezahlt, sind tote Ukrainer*innen, Männer, Frauen und Kinder und sie werden jeden Tag mehr.

 

Wir beten für die Ukraine und versuchen, wirklich so gut wie möglich zu helfen, jeden Tag. Slava Ukraini!!!

 

Birutė Kapustinskaitė

Vilnius am 06. März 2022

 

Birutė Kapustinskaitė, 1989 in Litauen geboren, schreibt für das Kino und das Theater. In der Spielzeit 2021/2022 hat sie eine dreimonatige Residenz im Rahmen der «Welt/Bühne» am Münchner Residenztheater verbracht. Ihre Arbeiten präsentiert sie international auf verschiedenen Festivals und Workshops. Sie leitet ein Drehbuchseminar an der litauischen Musik- und Theaterakademie und ist Mitgründerin der Agentur «Heads and Hands Scripthouse» für Autor*innen.