ANARCHIE IN BAYERN

 

Wenn wir Karl Valentin lesen, lesen wir immer mit, wie Bayern SEIN KÖNNTE. Wir können und wollen nicht anders, als Valentin als Utopie zu lesen, als Möglichkeitsraum, als Paralleluniversum.


Die Verkörperung des ANDEREN Münchens, des ANDEREN Bayerns, reinste Form der Anarchie, Sprengstoff im Müsli der Wirklichkeit.


Valentin lesen, heißt, die Welt, wie wir sie kennen, in Frage zu stellen. Die Realität zu verneinen. Die menschliche Natur: lächerlich, todtraurig, saudumm. Endlich sagt’s einer.


Wenn wir Valentin lesen, lesen wir mit, was möglich wäre, wenn wir nur wollten. Ein Leben ohne E-Mails, Zahnarzttermine und Reifenwechsel.


Von Karl Valentin lernen, heißt: vermauscheln, verschleppen, verwursteln. Der Ordnung die Stirn bieten, der Uhrzeit misstrauen, in den Widerstand zur eigenen Biografie treten.


Karl Valentin ist Unsinnsfabrikant, Wahnsinnsdetektor, Zusammenhangzertrümmerer. K. V. ist der ENTGLEISER.


Angefangen als unakademischer Vorstadtstrizzi hat er sich hochgearbeitet auf die größten Bühnen der Stadt.


Der Clown als Unternehmer, antiintellektueller Showman, als Artist in der Kuppel: ratlos. Er ist der KING OF COMEDY, unser liebster Stadtneurotiker.


Ausgestattet mit der unbedingten Bereitschaft, sich zum Idioten zu machen. Das Unbeholfen-Spindeldürre als Markenzeichen. Die Stilisierung seiner selbst zur Corporate Identity. Großes Kino eben.


Wenn wir Karl Valentin in den Varietés der Zwanzigerjahre sehen, sehen wir ihn als Dada-Granate und Nonsens-
Torpedo, als Chaplin von der Au. Die personifizierte Widerborstigkeit ist er, unser K. V., Fundamentalopposition zur preußischen Popkultur.


Gegen alles und jeden, nicht mal für sich selbst. Lebendige Wirtshaussemmel, jetzt natürlich tot, aber für immer unsterblich.


Karl Valentin ist Rätsel. Nicht zu greifen.


Andere Stars der Weimarer Republik fliehen im Frühjahr ’33. Valentin bleibt in München. Flugangst, Zugangst,
Bequemlichkeit? Die Welt brennt und Valentin zieht sich ins Gartenhäuschen zurück. Zwölf Jahre schreinern im Schuppen. Danach der Versuch des Comebacks, Trümmerkunst, Reprise. Interessiert nur keinen mehr. Ciao Dünner!


Herrlich dagegen die Anekdote, wie Hitler seine Postkartensammlung kaufen will. Der Großkünstler fordert 100.000 Mark, der Gröfaz winkt ab.


Valentin lesen, heißt immer auch, die Zukunft zu fälschen. Die Wahrheit zu dichten.


Dafür zu sein, weil man dagegen ist. Andersrum natürlich auch. Verstehen Sie die Logik?


Valentin lesen, heißt, sein eigener Depp zu sein. Selbstzweifel, Neurosenstrudel, Sternstunden der Kleinlichkeit, Kommunikation im Zeitalter der Robotik.

Und Valentin lieben, heißt immer auch, Bayern zu lieben. Aber nicht als Bayern, das es ist, sondern als Bayern, das es SEIN KÖNNTE!


Kein deppertes Laptop-und-Lederhose-Bayern mit seinen Unternehmensberatungen und Zulieferbetrieben. Kein Terrorstaat der Besinnlichkeit mit seinen geldigen Aufschneidern und Trachtenhummeln.


Valentin verstehen, heißt Bayern verstehen als eine FANTASIA, in der die Logik keine Chance hat. Ein Ort, an dem es luftiger zugeht als irgendwo sonst. In dem nichts gewiss und alles möglich ist.


Von Valentin lernen, heißt: verlieren lernen.


Also: Seien Sie kein Dimpflberger Fleißbienchen. Seien Sie ein Ammerseedampfer im Sturzflug. Genießen Sie die Niederlage, den Kreisverkehr, das Eigentor.


Verbummeln Sie ihr trauriges Dasein und machen Sie sich zu dem Trottel, der Sie schon immer waren. Verwandeln Sie sich zur Vorstadtneurotikerin, zur Privatsemmel, zum Wischiwaschi!


Unsere heilige Aufgabe ist es, Bayern in ein tschechisches Jamaika zu verwandeln, liebe Mit-Uhus. Warum sehen Sie das nicht endlich ein?

 

Michel Decar

 

Diesen Text finden Sie im Programmheft zu «Valentiniade. Sportliches Singspiel mit allen Mitteln», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.