SCHERBEN BRINGEN UNGLÜCK

Ein Richter, ein Krug, ein Justizskandal: Dramaturgin Constanze Kargl über Machtmissbrauch, eine misslungene Uraufführung und Parallelen zwischen König Ödipus und Dorfrichter Adam.

 

Richter Adam hat ein gravierendes Problem: Nicht nur kämpft er mit den schwerwiegenden Folgen seines nächtlichen Alkoholkonsums, sondern auch mit dem plötzlichen Auftauchen eines Vorgesetzten, des Gerichtsrats Walter, der die eigenartigen Gepflogenheiten der Rechtsprechung in der Provinz unter die Lupe zu nehmen gedenkt. So ist Adam genötigt, unerwartet einer Gerichtsverhandlung vorzusitzen, in der er gegen sich selbst ermitteln muss. Gegenstand der Verhandlung ist ein Krug, dessen Zu-Bruch-Gehen die Besitzerin Marthe Rull zur Anzeige bringt. Die Klägerin verdächtigt Ruprecht, den Verlobten ihrer Tochter Eve, den Krug bei einem nächtlichen Stelldichein zerbrochen zu haben; der Beklagte weist jegliche Schuld von sich und führt stattdessen einen Unbekannten ins Treffen. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versucht Adam nun zu verschleiern, dass er selbst jener Unbekannte ist, der in Eves Zimmer eingedrungen ist, um diese zu erpressen: Für die Schändung ihres jugendlichen Körpers bietet der Richter im Tausch die Schonung des ebenfalls jugendlichen Körpers ihres Verlobten Ruprecht, dem er ein falsches Attest auszustellen bereit ist, um dessen angeblich bevorstehenden Militärdienst in den von Faulfieber verseuchten Kolonien zu verhindern. Adams nächtlicher Besuch bei Eve wird allerdings von Ruprecht gestört, der den Richter zwar nicht erkennt, aber in die Flucht schlägt, wobei das Corpus Delicti zu Bruch geht und einen so finten- wie pointenreichen Prozessverlauf in Gang setzt. Den genauen Tathergang hinter verschlossenen Türen verschweigt Heinrich von Kleist – mit der Namensgebung Adam und Eve verweist er aber auf die Genesis und den Mythos des Sündenfalls.
Ein Kupferstich Jean Jacques André Le Veaus diente dem Autor 1802 angeblich als Anlass für einen «poetischen Wettkampf» unter Freunden, aus dem «Der zerbrochne Krug» hervorging. Kleist beschreibt den Kupferstich in seiner Lustspiel-Vorrede und vermerkt darin, dass der darauf dargestellte Gerichtsschreiber «den Richter misstrauisch zur Seite ansah, wie Kreon, bei einer ähnlichen Gelegenheit, den Oedip». Kleist zieht somit eine Parallele zwischen König Ödipus und Richter Adam. Doch während Ödipus nichts von seiner Schuld weiß und so «unschuldig» schuldig wird, ist Adam sich seines Vergehens durchaus bewusst. Während Ödipus als Tragödienheld in Theben Untersuchungen leitet, um die Wahrheit zu ergründen, tut Adam als Komödienheld in Huisum das Gleiche, um die Wahrheit zu verschleiern. Beide Bühnenwerke sind dem analytischen Drama zuzuordnen: Der inkriminierende Tathergang, dessen Auswirkungen es sukzessive freizulegen gilt, ereignet sich vor dem eigentlichen Bühnengeschehen, die Handlung setzt also zu einem Zeitpunkt ein, da das Verbrechen bereits stattgefunden hat.
1806, als Kleist den «Krug» fertigstellte, hatte er im Finanzministerium die erste und einzige Anstellung seiner kurzen Beamtenlaufbahn inne und nahm als Referendar in Königsberg, einer preußischen Provinzialbehörde, an einigen Prozessen teil. Selbst Jurist, übte der Dichter scharfe Kritik an der zeitgenössischen Rechtspraxis und goss diese am Modell eines Dorfgerichts im fiktiven Huisum in der Provinz Utrecht im ausgehenden 17. Jahrhundert in dramatische Literatur. Kleist, der zeitlebens keines seiner Werke auf der Bühne sehen und über deren Bühnenwirksamkeit nur spekulieren konnte, wohnte – als hätte er das Debakel geahnt – der Uraufführung am 2. März 1808 am Hoftheater in Weimar nicht bei. Inszeniert von niemand Geringerem als Johann Wolfgang von Goethe, wurde das in Blankversen verfasste Lustspiel vom ansässigen Adel als «moralischer Aussatz» degoutiert. Heinrich von Kleist, einer der bedeutendsten Dichter deutscher Sprache, hatte bei Publikum und Kritik ausgespielt, mit einer der bedeutendsten Komödien deutscher Sprache.
Dabei entpuppt sich Kleists Lustspiel als abgründiges Enthüllungsdrama um sexuelle Nötigung, Machtmissbrauch, Rechtsbeugung, Tatsachenverschleierung und versuchter Anstiftung zum Meineid und somit als veritabler Justizskandal. Adam Soboczynski, Schriftsteller und Literaturkritiker, hat darauf hingewiesen, dass «die Aufrichtigkeit, das Vertrauen bei Kleist sich als fragil erweisen und blendende Verstellungskünstler sein Werk prägen.» Dorfrichter Adam ist einer ihrer schillerndsten Vertreter und als Figur so erschreckend modern, dass er wie eine (Aus-)Geburt einer an Manipulationen so reichen Gegenwart aus dem Geiste der Geschichte wirkt.


Constanze Kargl

 

Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.