DER MENSCH MUSS ERST ZUGERICHTET WERDEN
EIN GESPRÄCH MIT HAUSREGISSEUR ALEXANDER EISENACH
Heinrich Mann wollte mit seinem Roman «Der Untertan» das menschenfeindliche System des Wilhelminismus offenlegen, in dem Bürger*innen zu Marionetten erzogen werden und ihrem Kaiser Wilhelm II. willenlos zu Füßen liegen. Was diese Erziehungsmethoden angerichtet haben und zu welcher Katastrophe diese am Ende beitrugen, wissen wir. Ist diese Untertanenmentalität, die Mann in seinem Roman vorführt, etwas typisch Deutsches – häufig wird er ja so gelesen und interpretiert – oder lässt sich daraus vielleicht sogar etwas Allgemeingültiges ableiten?
Das ist eine sehr gute Frage, denn natürlich ist man immer geneigt zu denken, dass es sich dabei um eine typisch deutsche Eigenschaft handelt. Es ist aber wahrscheinlich eher eine Eigenschaft, die eng an die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse und Systeme gekoppelt ist. Das Prinzip der opportunistischen Anbiederung beziehungsweise des Wunsches, selbst Macht auszuüben und sich gleichermaßen dieser Macht auch zu unterwerfen, ist eine Verhaltensweise, die autoritären Systemen und hierarchischen Strukturen grundsätzlich innewohnt. Diese Untertanenmentalität existiert überall dort, wo hierarchische Verhältnisse existieren – also auch im Kleinen, wie in Firmen, Betrieben oder selbst in Theatern.
Ist die Sehnsucht, durch Opportunismus aufzusteigen und selbst Macht auszuüben, den Menschen unmittelbar eingeschrieben? Ist sie sogar ein innerer Antrieb?
Es gibt auf jeden Fall Bedingungen, die dieses Verhalten begünstigen, weil es schlicht Vorteile bringt, in der Hierarchie weiter oben zu stehen. Aber ich glaube vor allen Dingen, dass es eine Tradition ist, die weitergegeben wird, denn sie beruht auf männlichen Strukturen. Das Bemerkenswerte an Heinrich Manns Roman ist, dass er dieses Verhalten aus der Soziopsychologie ableitet, indem er es unmittelbar mit dem Elternhaus verbindet. Es ist einem so von Kindesbeinen an eingetrichtert worden, dass man als Mann stark zu sein hat, dass man als Vater das alleinige Sagen hat oder als Lehrer die Kinder züchtigt. Heute ist alles weniger streng und rigoros als zu Heinrich Manns Zeiten, weil die Strukturen im Kern nicht mehr so massiv autoritär ausgelegt sind. Dennoch gibt es diese Unterwerfungs- und Machtmechanismen nach wie vor. Insofern würde ich auch nicht so weit gehen zu sagen, dass dieses Handeln dem Menschen per se eingeschrieben ist, sondern dass die Erziehung hierbei eine entscheidende Rolle spielt.
Damit nennst du das nächste wichtige Stichwort, denn Heinrich Mann hat mit seinem «Untertan» letztlich einen Anti-Bildungsroman geschrieben. Seine Hauptfigur Diederich Heßling gibt darin alle Individualität auf und entwickelt sich zum systemtreuen, nichts mehr hinterfragenden Untertan. Welches Gewicht nimmt die Persönlichkeitsfindung Heßlings in deiner Inszenierung ein und welches Bild von Männlichkeit spiegelt sich darin wider?
Dieser berühmte Romanbeginn – «Diederich Heßling war ein weiches Kind» – ist vor allem deshalb so bedeutsam, weil allein im ersten Satz bereits die Option mitschwingt, dass aus Diederich ein anderer Mensch hätte werden können. Er ist «weich» im Sinne von formbar und darum auch deformierbar. Gerade in patriarchal organisierten Gesellschaften werden junge Menschen in feste, vorgegebene Rollenmuster hineingepresst. Und ich fand es interessant, dass Diederich Heßling so viele Züge von dem aufweist, was man heute unter toxischer Männlichkeit versteht, der den antifeministischen, Anti-LGBTQ+-Diskurs bestimmt. Also einerseits das gekränkte dominierende Männlichkeitsgehabe und anderseits die damit eng verbundene Angst vor allem Weiblichen. Und diese Angst vor Frauen ist bei Mann unmittelbar mit persönlicher Schwäche konnotiert, denn er setzt Liebe und Zuneigung mit unmännlichem Verhalten gleich. Das Bemerkenswerte am «Untertan» ist, dass Heinrich Mann hier die psychische Verformung von Kindern und jungen Männern als Grundvoraussetzung dafür aufzeigt, dass Systeme wie der Autoritarismus oder Faschismus überhaupt funktionieren können. Der Mensch muss dafür erst zugerichtet werden, wie es im Roman heißt.
Heinrich Mann entwirft in seinem «Untertan» das Bild eines starken Machers. Gleichzeitig aber, und das ist der spannende Widerspruch, macht dieser sofort einen Rückzieher, sobald es gilt, Verantwortung zu übernehmen. Wie geht das zusammen?
Ich glaube, dass Verantwortung übernehmen nicht gleichbedeutend ist mit verantwortungsvoll mächtig sein. Wenn man sich beispielsweise autoritäre Machthaber ansieht, hat man nicht das Gefühl, dass sie viel Verantwortung für ihr Tun übernehmen, sondern für sie ist Macht reiner Selbstzweck. Ein Donald Trump wird ja gerade für sein vermeintliches Machertum gewählt, weil die Leute in ihm den «starken Mann» sehen, nach dem sich gerade wieder so viele sehnen. Aber all das ist nur Selbstdarstellung und hohle Geste. Das Interessante bei Heinrich Mann ist, dass er in satirischer Form zeigt, dass das Verhalten Kaiser Wilhelm II. – und damit in der Konsequenz auch das seines treuesten Adepten Heßling – nichts als Form und Schein ist. Letztlich haben beide den gleichen inneren Antrieb für ihr Tun: Egoismus und Profitdenken – zwei Grundhaltungen des Kapitalismus.
Du beziehst dich in deiner Antwort auf die Machthaber, ich meine aber den Untertanen-Typus, wie Mann ihn zeichnet. Der übernimmt zwar Verantwortung für seine Familie, steht ihr mit Strenge und Härte voran, sobald es aber in den öffentlichen, in den gesellschaftlichen Raum geht, ist davon nichts mehr zu sehen und er wird zum Duckmäuser.
Es ist eher das Prinzip opportunistischen Handelns, das sich hier zeigt und in dem es nur um den eigenen Vorteil geht. Zu Beginn des Romans gibt es den exemplarischen Satz, dass nur wer sich der Macht unterwirft, sie im nächsten Schritt auch weitergeben kann. Das ist letztendlich ein sadomasochistisches Prinzip, weil man es auf der einen Seite genießt, unterdrückt zu werden, aber auf der anderen Seite die Unterdrückung auf der Hierarchieleiter sofort nach unten weitergibt. An diesem Punkt kommen dann die ökonomischen Strukturen ins Spiel: Im Grunde geht es immer nur um die Gelegenheiten, die sich einem bieten und die es dann zum eigenen Vorteil zu nutzen gilt. Die wenigsten sagen: Ah, der ist schwach, den kann ich klein machen und ich mache mich dadurch größer!
Heinrich Mann zeigt in seinem Roman eine reine, von Männern dominierte Gesellschaft, in der Frauen eine klar untergeordnete Rolle spielen. Du wolltest dieses eindeutige Patriarchat bewusst nicht bedienen, sondern lässt alle Figuren außer Heßling von Frauen spielen. Warum diese Entscheidung?
Gerade weil Heinrich Mann hier das Porträt eines auf patriarchalen Strukturen basierenden Autoritarismus entwirft, indem jegliche Herrschaft von Männern ausgeht, wollte ich mit der Besetzung bewusst auf das fehlende weibliche Element darin anspielen. Außerdem will ich nicht überkommene Verhaltensmuster reproduzieren, die zeigen, dass Männer grundsätzlich das Sagen haben und die Frauen von ihnen dominiert werden. Wir haben dieses Machtgefüge umgedreht und all die darauf abzielenden Texte den Frauen gegeben, um sie auch anders hörbar zu machen. Weil es natürlich etwas ganz anderes ist, einen toxisch-maskulinen Inhalt von einer Frau zu hören, denn sie wird als Sprecherin zugleich zur Adressatin des Textes, zu derjenigen, die mit diesen Worten ausgestoßen und abgestoßen werden soll. Dadurch wird uns hoffentlich wieder bewusst, was sich in den letzten hundert Jahren gesellschaftlich verändert hat und was bestimmte Kräfte gerade wieder versuchen, rückgängig zu machen.
Deine Inszenierung findet ihren satirischen Höhepunkt, wenn die berühmte Burschenschaftszene des Romans allein von den Schauspielerinnen darstellt wird. Schon Mann wählt für seine Kritik am Wilhelminismus als Form die Satire und den Humor. Eine Form, die dir und deiner Arbeit ja auch sehr nahe ist. Die Gefahr liegt hier aber in der Überzeichnung, dem ins Lächerliche ziehen und damit am Ende in einer möglichen Verharmlosung. Wie versuchst du dieser Gefahr aus dem Weg zu gehen?
Zunächst mal glaube ich, dass man den Humor nicht zu sehr forcieren sollte. Er sollte vor allem aus dem Text heraus entstehen. Das ist aber immer auch eine Gratwanderung und Abwägung. Letztlich wird es immer verschiedene Einschätzungen und Meinungen geben, ob diese oder jene Szene jetzt zu karikierend ist und deswegen keine Schärfe mehr hat. Grundsätzlich bin ich aber davon überzeugt, sobald in einer Satire oder überhaupt Komödie die Not einer politischen Wirklichkeit fehlt und es nur um den Witz geht, ist sie zum Scheitern verurteilt.
Historische Analogien zur Gegenwart sind immer problematisch, weil sich die Verhältnisse niemals vergleichen lassen. Trotzdem drängt sich dieser Stoff gerade in unserer Gegenwart besonders auf. Hältst du es für übertrieben, zu sagen, dass wir uns heute in einer ähnlichen Situation befinden wie Heinrich Mann, als er 1907 begann, an seinem Roman zu schreiben?
Überhaupt nicht. Ich würde sogar behaupten, dass wir uns heute an einem nahezu ähnlichen Punkt befinden, weil es sehr viele Parallelen gibt. So dachte zum Beispiel auch Kaiser Wilhelm II., dass er sich in Vier-Augen-Gesprächen mit anderen Staatenlenkern über alle diplomatischen Gepflogenheiten hinwegsetzen kann, um so sein Gegenüber zu brüskieren. Das ist ein Typus, der uns aus der Politik heutzutage sehr vertraut ist. Dazu kommt, dass wir gerade eine Militarisierung der Gesellschaft erleben, die große Teile in Deutschland auch positiv konnotieren, weil es heißt, wir müssen wieder wehrhaft werden. Und schließlich machen wir im Moment eine gesellschaftspolitische Rolle rückwärts, die es zu Heinrich Manns Zeiten genauso gab. Damals war das Gefühl vorherrschend, dass man mit der Revolution von 1848 einen gemeinschaftlichen Schritt nach vorne gemacht hatte, aber dann setzte ein gesellschaftspolitischer Backlash ein. Statt sich in Richtung eines liberalen und demokratischen Staates zu entwickeln – wie beispielsweise in Frankreich, das für Heinrich Mann unmittelbares Vorbild war –, kam es in Deutschland zu einem Autoritarismus mit Kaiser Wilhelm II. als Alleinherrscher. Ähnliche Tendenzen lassen sich gerade nicht nur in Europa, sondern weltweit beobachten. Was man auch nicht vergessen darf, ist – und diese Parallele ist schwerer zu greifen –, dass sich dank der industriellen Revolution die Gesellschaft komplett verändert hat, weil sich ein Proletariat herausbildete. Heute haben wir es mit einer digitalen Revolution zu tun, deren Auswirkungen auf die Bevölkerung noch gar nicht absehbar sind.
Dir geht es in deinen Inszenierungen – wie zuletzt auch in deinem «Götz von Berlichingen» – nicht so sehr darum, die Geschichte 1:1 nachzuerzählen, sondern du suchst immer die Bezüge zu unserer Gegenwart. Das bietet sich beim «Untertan» unmittelbar an, weil dem Roman etwas Lehrstückhaftes innewohnt. Wo und inwiefern geht deine Bearbeitung über die Vorlage hinaus?
In einer Inszenierung Brückenschläge ins Jetzt zu machen, sodass die Zuschauer*innen verstehen, dass die Geschichte nicht in einem luftleeren Raum spielt, sondern dass sie uns unmittelbar betrifft – diese Ebene liegt mir echt am Herzen, weil ich das Publikum mitnehmen will. Viele Themen, die an dem Abend wichtig sind, habe ich ja schon angesprochen – Antifeminismus, die Incel-Bewegung, patriarchale Strukturen. Darüber versuche ich, eine Verbindung zu unserer heutigen Gegenwart herzustellen, weil der Stoff sehr deutlich vor Augen führt, welche Kontinuitäten existieren und wie gewisse Muster reproduziert werden und so scheinbar unabänderlich weiterbestehen. Heinrich Mann hat ja mal gesagt: «Wann immer die Deutschen einen Krieg verlieren, drucken sie meinen ‹Untertan›.» Sein Roman wird wohl nie an Relevanz verlieren - oder wie er am Ende seines Essays «Kaiserreich und Republik» geschrieben hat: «Wir haben noch sehr viel zu lernen.»
Mehr zum Stück finden Sie im Programmheft der Produktion. Das Programmheft ist erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als gekürzte Onlineversion zum Download hier.