Zwischen Horror und Humor

Über Carla Zúñiga Morales’ «In der Dunkelheit der Nacht» beim WELT/BÜHNE-Festival 2025


Die chilenische Dramatikerin Carla Zúñiga Morales nutzt Horror‑Ästhetik, schwarzen Humor und radikale Empathie, um geschlechtsspezifische Gewalt schonungslos sichtbar zu machen. Elena Yordanova über eine Autorin, die ihr Publikum dazu bringt, hinzuschauen, wo sonst geschwiegen wird.
 

 

Im Rahmen des diesjährigen WELT/BÜHNE-Festivals, das Anfang Juni 2025 am Residenztheater München stattfand, wurde die Stadt für eine Woche zum Treffpunkt internationaler Gegenwartsdramatik. Im Rahmen dessen präsentierte Carla Zúñiga Morales (* 1986) ihr Stück «In der Dunkelheit der Nacht» (En la oscuridad de la noche), welches im Rahmen ihrer mehrmonatigen Schreibresidenz am Residenztheater entstand. Es war das erste Mal, dass dieses Werk im deutschsprachigen Raum aufgeführt wurde – in der Originalsprache mit deutschen und englischen Übertiteln.
 

Carla Zúñiga Morales gilt als eine der wichtigsten Stimmen der jungen lateinamerikanischen Dramatik. Die chilenische Autorin, Regisseurin und Theaterpädagogin begann ihre künstlerische Laufbahn als Schauspielerin. Inzwischen hat sie über 37 Theaterstücke verfasst, von denen mehr als 30 uraufgeführt wurden, viele davon auf internationalen Festivals. In ihren Stücken setzt sie sich in radikaler Form mit gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen auseinander, insbesondere mit patriarchaler Gewalt, sexuellen Machtstrukturen, Gendernormen und queeren Identitäten. Dabei gelingt es ihr, eine einzigartige Balance zwischen Tragik und Groteske zu finden: Mit schwarzem Humor, expressiver Sprache, surrealen Szenarien und bewusst eingesetztem Kitsch macht sie auf Strukturen aufmerksam, die in vielen Gesellschaften unausgesprochen bleiben. Zúñiga Morales entwirft in ihren Texten eine radikale Empathie für marginalisierte Perspektiven, insbesondere für weibliche und queere Figuren, ohne dabei in einfache Opfer-Erzählungen zu verfallen.
 

Ich hatte die Gelegenheit, ihr einige Fragen zu stellen. In ihren Antworten betonte sie mehrfach die Komplexität menschlicher Emotionen, auch bei der Verarbeitung von Schmerz und Gewalt. «Ich finde es schwer, mir das Schreiben ohne Humor vorzustellen.», sagte sie und fügte hinzu: «Menschliche Emotionen und der menschliche Geist sind unglaublich komplex, widersprüchlich und unvorhersehbar, und ich gehe Situationen gerne aus dieser Komplexität heraus an. Wenn wir also über Wut und Schmerz sprechen, muss es für mich auch Humor geben.» Ihr Umgang mit Trauma ist dabei weder voyeuristisch noch versöhnlich, sondern konfrontativ – sowohl sprachlich als auch formal. Zúñigas Sprache ist direkt, bilderreich und oft provokant, aber nie um ihrer selbst willen brutal. Vielmehr geht es ihr um die Artikulation dessen, was in patriarchalen Kulturen häufig unaussprechlich bleibt.
 

Ein wichtiges Thema für mich war die Rolle von Sprache und Kultur in ihrem Stück, da die meisten Stücke auf dem Festival übersetzt wurden. Darüber sagte sie mir:


«Ich glaube, dass manche Dinge unübersetzbar sind, insbesondere solche, die mit der chilenischen oder lateinamerikanischen Sprache zu tun haben. (...) Manche Dinge ergeben ohne Kontext einfach keinen Sinn. Aber ich glaube, dass die Kernthemen meiner Stücke, die sich mit Gewalt, der Absurdität des Daseins und der Suche nach dem eigenen Platz in der Welt befassen, universeller sind und überall Anklang finden können. Das isteinerseits gut, andererseits aber auch traurig, denn es macht uns bewusst, dass bestimmte globale Probleme, insbesondere solche, die mit Gewalt zu tun haben, Klassen, Geografie und alles andere überschreiten. Sie sind überall auf der Welt präsent, in größerem oder geringerem Maße.»



Damit benennt sie auch die globale Dimension ihrer Themen. Gewalt gegen Frauen, das Schweigen über sexualisierte Übergriffe, die Angst vor dem eigenen Körper, oder dem Blick der anderen, sind nicht auf einen spezifischen geografischen Kontext beschränkt, sondern universell, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt.


Carla Zúñiga Morales’ Werk «In der Dunkelheit der Nacht» (En la oscuridad de la noche) ist ein fragmentarisches, sechsteiliges Theaterstück, das sich dem Thema geschlechtsspezifischer Gewalt aus weiblicher Perspektive nähert. Dabei greift die Autorin auf Motive und Atmosphären des Horror-Genres zurück, allerdings nicht, um Täterfiguren in Szene zu setzen, sondern um die permanente Bedrohung, die Angst und das Trauma von Frauen sichtbar zu machen. «Von Anfang an war dieses Stück als Horrorstück konzipiert.», so Zúñiga. Sie sei daran interessiert gewesen, die patriarchale Perspektive klassischer Horrornarrative aufzubrechen:


«Ich hatte das Gefühl, dass viele der Symbole oder Erzählmittel des Horrors immer eine sehr patriarchale Sichtweise widerspiegeln, also begann ich mich zu fragen, was passieren würde, wenn wir die Geschichten dieses Genres aus einer anderen Perspektive erzählen würden.»


Die Szenen des Stücks sind lose miteinander verbunden. Sie folgen keiner linearen Erzählstruktur, sondern zeigen Schlaglichter auf unterschiedliche Gewalterfahrungen: von Alltagsängsten über innerfeministische Konflikte bis zu expliziten Darstellungen von Missbrauch und Femizid. Trotz der thematischen Schwere ist der Text durchzogen von schwarzem Humor, absurden Dialogen und grotesken Brüchen – ein Stilmittel, das Zúñiga Morales bewusst einsetzt: «Ich schreibe sehr gerne über Tragödien, Pathos und Schmerz, und ich glaube, dass es unmöglich ist, in all diesen Bereichen keinen Humor zu finden.»
 

Ein Beispiel für diese komplexe Dramaturgie ist die vierte Szene, in der fünf Feministinnen gemeinsam an einem Netflixserie über sexualisierte Gewalt arbeiten. Es entspinnt sich ein Streit darüber, wie explizit Gewalt dargestellt werden darf. Eine Figur fordert: «Wir müssen die Brutalität der Szene zeigen.» Ihre wütende Direktheit ruft Unbehagen hervor – auch im Publikum. Die Szene legt offen, dass selbst innerhalb feministischer Räume keine Einigkeit darüber besteht, wie mit traumatischem Material umgegangen werden sollte. Sie konfrontiert mit Fragen der (Re-)Traumatisierung, der Darstellbarkeit und der Verantwortung.
 

Formal arbeitet das Stück mit bewusst stilisierten, teilweise surrealen Übergängen: Choreografierte Umbauten, flirrende Lichteffekte und plötzlich einsetzende Popsongs kontrastieren mit der textlichen Brutalität. Dieser abrupte Rhythmus erzeugt ein Gefühl der Unruhe, das sich auf das Publikum überträgt. Gleichzeitig bietet er kurze Atempausen, jedoch nicht zur Entlastung, sondern um den Horror noch eindrücklicher spürbar zu machen.
 

Ein zentrales Motiv des Stücks ist das «Nicht-wegschauen-Können». Der Theatertext bezieht klar Stellung: Gewalt muss benannt werden, auch wenn sie verstört. Zúñiga Morales versteht Theater nicht als Ort pädagogischer Belehrung, sondern als Raum radikaler Sichtbarkeit. «Ich schreibe, um diese Dinge aus meinem Kopf zu bekommen», antwortete sie mir. «Wenn ich nicht darüber schreiben würde, würde ich mich völlig überfordert fühlen.» Ihre Stücke sind eine Form des Widerstands gegen das Schweigen – literarisch, politisch und emotional zugleich.
 

Im Kontext des WELT/BÜHNE-Festivals, das sich in diesem Jahr dem Thema «Grenzen» widmete, erhält das Stück eine doppelte Bedeutung: Es zeigt, wie Gewalt den Körper zur Grenze macht – zwischen Innen und Außen sowie zwischen Erfahrung und Sprache. Und es überschreitet zugleich künstlerische und gesellschaftliche Grenzen, indem es Tabus aufbricht, die oft selbst in feministischen Diskursen bestehen bleiben. Das ist auch in ihrem Text zum Audiowalk «Borders between us» zu sehen, nämlich: «Was passiert, wenn ein weiblicher Körper ausbricht?». Darauf hat sie mir auch kurz geantwortet: «Dieses Stück entstand aus der Frage nach Grenzen, nach Abgrenzungen. Ich dachte sofort an den Körper als Grenze der Seele und daran, wie schön, aber auch manchmal erschreckend das sein kann. Ich glaube, dass dieser Text ungewollt viel von «En la oscuridad de la noche» enthält. Ich glaube, das sind die Ideen, die mir in letzter Zeit durch den Kopf gehen.»
 

Das Stück eröffnet dem deutschsprachigen Publikum nicht nur einen Einblick in die Realität lateinamerikanischer Frauen, sondern zwingt es auch zur Selbstreflexion. In einer Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt zwar zunehmend thematisiert wird, jedoch häufig in abstrakter Sprache, stellt Zúñiga Morales Text einen radikalen Gegenentwurf dar. Er benennt, was nicht benannt werden darf, und leistet damit genau das, was Theater im besten Fall kann: die Dunkelheit beleuchten.

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Dieser Text von Elena Yordanova entstand im Rahmen des Seminars «Kuratorische Konzepte / Studien zu Ästhetik und Struktur des Gegenwartstheaters» des theaterwissenschaftlichen Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München.