Erinnerung und Vermächtnis

Die Uraufführung von Alfred Neumanns Roman «Es waren ihrer sechs» führt die programmatische Linie weiter, die mit Judith Herzbergs Stücktrilogie «Die Träume der Abwesenden» zu Beginn der Spielzeit gesetzt wurde: Es geht um Erinnerung und Vermächtnis; darum was Erinnerungskultur bis heute leistet und wie sie künftig aussehen kann. Der bewusste Wille zum Vergessen, der Wunsch nach einem Schlussstrich wird zusehends lauter formuliert und die nur noch wenigen lebenden Zeitzeugen immer weniger gehört. Judith Herzberg ist eine der letzten noch lebenden lauten Stimmen. Sie zeigt in ihrer Trilogie eindrücklich, wie sich das Trauma der Shoa als innerfamiliäres Vermächtnis über Generation hinweg weitervererbt. Eine ihrer Figuren fordert uns entsprechend auf, wachsam zu bleiben. Eine Forderung, die auch Alfred Neumann in seinem Roman über jugendlichen und gewaltfreien Widerstand gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime teilt. Gerade die letzten Wahlen haben unterstrichen, dass die politische Unzufriedenheit quer durch alle Lager und über alle Parteien hinweg groß ist und gerade unter den Jüngeren weiterwächst. Eine Unzufriedenheit, die europaweite zu beobachten ist und letztlich die Entwicklung hin zu überwiegend nationalkonservativen und rechtspopulistischen Regierungen in Osteuropa beschleunigt hat. Genau aus diesem Grund haben wir den polnischen Regisseur Michał Borczuch mit der Uraufführung von Neumanns Roman betraut.

 

Die steigende Zahl an rassistischen und antisemitischen Übergriffen hierzulande sollte als deutliches Warnsignal hin zu einer zunehmenden Radikalisierung in den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten wahrgenommen werden. Vor zwanzig Jahren begann der NSU („Nationalsozialistische Untergrund“) mit seiner rassistisch motivierten Mordserie gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Über zehn Jahre hinweg wurden die Opferfamilien stigmatisiert und teilweise selbst zu Tätern erklärt. Christine Umpfenbach ließ 2014 in ihrem Dokumentartheaterstück «Urteile» als eine der ersten überhaupt die Opferfamilien zu Wort kommen. Auch jetzt, sieben Jahre nach der Uraufführung und drei Jahre nach Prozessende, kämpfen die Angehörigen der Opfer noch immer mit den Folgen der Ereignisse. Auch in diesem Fall gilt es, nicht zu vergessen, keinen Schlussstrich zu ziehen, sondern zu erinnern und den Hinterbliebenen Gehör zu verschaffen.

 

Michael Billenkamp