DER FALL HAMSUN – EIN GESPENST AUS DER ZUKUNFT

Knut Hamsuns Biografie ist die Geschichte eines erstaunlichen gesellschaftlichen Aufstiegs und tiefen ideologischen Falls: 1859 geboren, in ärmsten bäuerlichen, bildungsfernen Verhältnissen aufgewachsen, avancierte Hamsun nach Wanderjahren, Gelegenheitsarbeiten, zwei Amerikaaufenthalten und extremer Armut in Kristiania, dem heutigen Oslo, von seinem dreißigsten Lebensjahr an zu einem der erfolgreichsten Vertreter norwegischer Literatur neben Henrik Ibsen. Seine frühen Romane übten maßgeblichen Einfluss auf die Herausbildung der literarischen Moderne aus. Er stellte ein brüchiges Subjekt ins Zentrum seiner Prosa und eröffnete den Leser*innen noch vor James Joyces «Ulysses» beispielsweise durch den Kunstgriff des Bewusstseinsstroms (etwa in seinem 1890 erschienenen Roman «Hunger») tiefe Einblicke in das Denken und Empfinden, die sprunghafte, assoziative Logik der menschlichen Psyche. 1920 wurde Hamsun mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Am Höhepunkt seines Ruhms setzte Hamsuns Fall ein: Er kollaborierte im fortgeschrittenen Alter mit den Nationalsozialisten, ließ sich von der NS-Propaganda instrumentalisieren und wurde schließlich nach dem Ende der NS-Terrorherrschaft 1947 des Landesverrats angeklagt und zu hohen Schadensersatzzahlungen verurteilt. Man mag versuchen, zwischen einem «frühen» und «späten» Hamsun oder zwischen Werk und Autor zu differenzieren; seine norwegischen Zeitgenoss*innen hielten von diesen Unterscheidungsnuancen wenig und warfen Hamsuns Bücher aus Protest über den Gartenzaun seines Wohnsitzes.

VON «HUNGER» ZU «KARENO»

Hamsuns 1890 erschienener Debütroman «Hunger», eine fragmentarische Erzählung über den körperlichen und psychischen Verfall eines sich durch das abweisend kalte Kristiania schlagenden jungen Schriftstellers, über dessen extreme Armut, seinen Hunger und zunehmenden Ich-Verlust, lässt den Aufbruch in die literarische Moderne deutlich erkennen. Hamsun zieht die Lesenden in einen Bewusstseinsstrom, der mit Konventionen realistischen Erzählens bricht und gerade dadurch ganz nah an die Realität der fast zerbrechenden Hauptfigur heranführt. Hier gibt es keinen unbeteiligten, bloß beobachtenden Erzähler, keine möglichst genaue, objektive Beschreibung der Umwelt, keinen psychologisch motivierenden Hintergrund und keine Vorgeschichte von Figuren, kein episches Panorama der Lebenswirklichkeiten. Denn die Wirklichkeit ist nur das, was der erzählenden Ich-Figur ins Bewusstsein dringt. Und dieses subjektive Bewusstsein kann nur sprunghaft wahrnehmen, ist von seiner körperlichen und psychischen Verfassung abhängig, wird von spontanen Einfällen oder jähen Stimmungswechseln aus der Bahn geworfen, getrieben oder in seinen Zielen gehemmt. Hamsun führt in «Hunger» aus, was er im selben Jahr in seinem Vortrag «Psychologische Literatur» programmatisch skizziert: eine Literatur, die dem komplexen Innenleben und der Wirklichkeitserfahrung des modernen Menschen seiner Gegenwart gerecht zu werden versucht. Die Hauptfigur seiner 1898 vollendeten «Kareno-Trilogie» ist dem namenlosen Schriftsteller aus «Hunger» nicht unähnlich. Beide hoffen sie, durch ihre rastlose schriftstellerische Arbeit den bedrückenden Verhältnissen zu entkommen und gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren. Aber während der Protagonist in «Hunger» diverse Gelegenheitstexte für eine Zeitung produziert, sind die Schriften Karenos dezidiert politisch. Die darin zum Ausdruck kommende antidemokratische Haltung scheint – tagespolitisch – Hamsuns Enttäuschung über das norwegische Parlament auszudrücken, das von einem 1895 eingeschlagenen Konfrontationskurs gegen Schweden, dem Norwegen bis 1905 unterstand, wieder Abstand genommen hatte. Dass darin auch ein grundsätzliches Misstrauen des Autors dem Parlamentarismus gegenüber anklingt, ist anzunehmen, wenn auch noch nicht abzusehen ist, welchen fatalen Irrweg der Autor Jahrzehnte später einschlagen wird.

ELEMENTE DER RADIKALISIERUNG – HAMSUN GEGEN HAMSUN LESEN

Sich mit Hamsuns Kareno-Figur zu beschäftigen, bedeutet, Hamsun auf zweifache Art gegen Hamsun zu lesen. Einerseits heißt das, den Hamsun der literarischen Moderne, des brüchigen Ichs und der psychologischen Analyse des Individuums gegen den späteren Reaktionär und sein sich der Macht anbiederndes Größen-Ich zu wenden. Andererseits bedeutet das, Hamsuns Kareno-Figur aufgrund des Wissens um die zukünftigen Verirrungen ihres Autors nicht über den Weg zu trauen. Die Biografie des Autors wendet sich posthum – wie ein Gespenst aus der Zukunft – gegen seine Figur. Aber in dieser Figur, dem gesellschaftlichen Panorama, das sie umgibt, in ihren Beziehungen zu anderen und ihrer Entwicklung in den drei Stücken über einen fast epischen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg zeigen sich Elemente, die für eine Auseinandersetzung mit antidemokratischen Phänomenen unserer aktuellen Gegenwart von großem Interesse sind. Ein ganzes Bündel an ökonomischen, psychologischen, sozialen und ideologischen Aspekten, die mit Karenos Radikalisierung in Verbindung stehen, wird sichtbar: seine prekäre Lebenssituation, der Umstand, dass an allen Ecken und Enden das Geld fehlt, der bevorstehende Abstieg; die demütigende Abhängigkeit von materiellen Zuwendungen anderer – einem Gehaltsvorschuss seitens des Verlegers oder der Unterstützung der Schwiegereltern; sein verglichen mit seinem Kommilitonen geringer sozialer Status, der scheinbar nur durch besondere Schärfe des Denkens wettzumachen ist, durch ein Trotzdem, durch die Konstruktion eines Größen-Ichs, das sich über all diese Beschränkungen zu erheben imstande glaubt; sein Gefühl, aus dem Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen zu sein, und seine gleichzeitige Überheblichkeit eben diesem Betrieb gegenüber; der Zwiespalt, die wissenschaftliche Autoritäten des Denkens anzugreifen und abzulehnen und zugleich deren Anerkennung zu ersehnen; sein Gefühl, aus eigenem Antrieb und aus eigener Kraft etwas Besonderes, Bemerkenswertes erreichen zu wollen, den eigenen phantasierten Aufstieg stets vor Augen zu haben und zugleich zu erfahren, das dies mit seiner Weltsicht nicht möglich ist; eine fatale Mischung aus Selbstüberschätzung und Ohnmacht bzw. nicht realisierter Selbstwirksamkeit.

Es ist bezeichnend, dass Kareno mit seinen Gegner*innen über seine abstrusen Thesen gar nicht erst in eine argumentative Debatte eintritt. Es scheint ihm weniger um die inhaltliche Substanz seiner Ideen als um ihre allgemeine Kontraposition zu gehen – Verneinung und Ablehnung als Prinzip, nicht Debatte und die Kraft des Arguments. Es ist die Ideologie eines in sich verschlossenen Brüters, der gesellschaftliche Anerkennung durch die Aberkennung des gesellschaftlichen Konsenses zu erreichen glaubt. Und auch der antiemanzipatorische, elitäre 

Kern seines Denkens wird sichtbar: Er tritt in der Theorie tief nach unten, um auf dem Rücken der Schwachen nach oben zu kommen. Sein Denken kennt nur das Vertikale, eine hierarchische Ordnung der Konkurrenz und Abwertung um den Preis der eigenen Aufwertung. Und schließlich ist er gefangen in einer männlichen Ich-Abkapselung, in der Beziehung als Bedrohung erlebt wird, als Schwächung und Hemmnis kommender Größe. Erst wenn diese Größe erreicht ist – so glaubt er –, wird er in Beziehung mit anderen sein können.

Karenos System kollabiert und in Teil 2 der Trilogie macht er eine Art «Welterfahrung» an einem anderen Ort. In Teil 3 tritt dem gealterten Kareno schließlich die Frucht seines Denkens gegenüber. Was er zwanzig Jahre zuvor in Umlauf gebracht hat, ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Ein jugendlicher Gesandter eines dubiosen Vereins, dem auch Kareno angehört, fordert von ihm ein Bekenntnis zu seinem damaligen extremistischen Denken. Kareno steht vor diesem jungen Mann wie Frankenstein vor seiner Kreatur. Den Hass, den er vor sich sieht, hat Kareno selbst zur Welt gebracht. Das extremistische Denken bringt mit der Zeit sein extremistisches Subjekt hervor. Mit Blick auf unsere Gegenwart ist dieser Befund erschreckend real. Die rechtsextremistische Gefahr, die unsere Gesellschaft bedroht, nimmt in der politischen Rede ihren Anfang. Rechtsextremistische oder rassistische Politik spricht nicht bloß aus, was die Menschen angeblich denken – im Gegenteil! Sie bringt vielmehr dieses Denken bewusst hervor, sie arbeitet an der Ausbildung rechtsextremer, rassistischer Subjekte, um diese als Wähler*innen gleich einer Ernte einzuholen. Doch damit hat extremistische, antidemokratische Politik ihr Ziel noch längst nicht erreicht. Denn im nächsten Schritt wird sie die ihr entsprechende Herrschaftsform ins Werk zu setzen versuchen: den totalitären Staat.

Hamsuns «Kareno-Trilogie» hält unserer Gegenwart einen Spiegel vor. Der Autor Hamsun selbst jedoch bleibt in seinem eigenen Irrtum bis zum Tod gefangen. Vielleicht wusste er mehr über seine Figur als über sich selbst. Umso dringender bleibt die Frage, die seine Trilogie stellt: jene nach Veränderung, Umkehr und der Möglichkeit, sich von extremistischem Denken loszusagen. Wenn Kareno diese Entscheidung auf der Bühne zu treffen versucht, beobachten wir dies genau, mit allem gebotenen Misstrauen. Denn das Gespenst des ergrauten NS-Sympathisanten Hamsun sucht diese Entscheidung heim – das heißt anders ausgedrückt: Sich für eine liberale, demokratische Gesellschaft und die Würde aller Menschen auszusprechen, ist keine einmalige, singuläre Entscheidung – es könnte sich um ein bloßes Lippenbekenntnis handeln. Es ist eine politische Entscheidung, die immer wieder neu zu treffen ist, es ist politisches Handeln, das immer wieder aufs Neue zu aktualisieren ist.

 

Ewald Palmetshofer

 

Eine ungekürzte Version dieses Textes finden Sie im Programmheft zu «Spiel des Lebens», erhältlich an der Theaterkasse, in den Foyers oder als Onlineversion zum Download hier.